Archiv der Kategorie: Theaterkritik

In fremden Kleidern

:Die Connewitzer Cammerspiele installieren Remake eines Ferreri-Klassikers in der naTo:
Wie viele Filme gibt es, in den Marcello Mastroianni, Michel Picolli, und Philippe Noiret gemeinsam vor der Kamera standen? Wahrscheinlich genau einen. „Das große Fressen“ von 1973. Eine obskurer Abgesang auf die hohe Zeit ‚spätrömischen Dekadenz’, um mit Guido Westerwelle zu sprechen. Eine Theater-Adaption des Klassikers brachten nun die Cammerspiele auf die Bühne der naTo. Weiterlesen

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Zwischenraum des Möglichen

:Drama Köln installieren für das Festival „Deutsche Geschichten“ einen verfrorenen Theaterspaziergang:
Im Winter sehen viele Orte aus wie der tiefste Osten. Wenn der Stadtschnee zu krudem Eis gefriert und sich alle Stufen von Schmutzgrau über die Bürgersteige ziehen. Möglich, dass die verharschten Schneehaufen in der DDR noch ein bisschen dreckiger waren, doch die Dunkelheit tut ein Übriges. Die Performer von Drama Köln hätten sich kühleres Wetter, kränklichere Verhältnisse nicht wünschen können. Sie schicken an diesem Freitagabend ein Häuflein Aufrechter, ihr Publikum, hinaus in die Zone, raus aus der Schaubühne in den Leipziger Westen, der für die theatrale Rückeroberung der Geschichte noch einmal ohne viel Mühe den Osten macht. Weiterlesen

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Erloschen, verloren – und doch Musik

:„Kaufmann & Co“ eröffnen die Reihe „Theater.Macht.Musik“ im Westflügel:
„Ich ist ein anderer“. Der Dichter Rimbaud fasst in einem Satz, warum wir Kunst nötig haben. Alle Kunst lebt von diesem Riss, gutes Puppentheater aber zeigt die Werkzeuge, legt die Anatomie bloß. Spieler und Puppe auf einer Bühne, sichtbar, sich gegenseitig in Frage stellend. Wer führt, wer spricht, wer formt? Weiterlesen

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Utopie mit Schweißband

:LIGNA arbeitet im LOFFT an Bewegungen für den neuen Menschen:
Schlendern, aber ohne Blick für die Schaufenster. Tanzen, aber nicht zur infantilen Hintergrundmusik der Promenadendecks. Auf Ziele zeigen, aber nicht auf solche, die man mit Zügen erreichen kann. Ein Rudel junger Menschen trieb 2003 auf dem Bahnhof eine verstörende Gruppenchoreographie: „Übungen im nicht bestimmungsgemäßen Verweilen.“ Weiterlesen

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Bermudadreieck des Humors

:Ein Rede. Gehalten zur Ausstellungseröffnung THEATERPLAKATE von Thomas M. Müller in der »moritzbastei« Leipzig am 01.Juli 2009:
1. Banner des Augenblicks

Es käme nicht unbedingt aufs Gewinnen an, aber eine genauere Prüfung wäre es wert: Es ist gut möglich, dass kein Grafiker für ein und dieselbe Bühne Leipzigs, die Städtischen eingeschlossen, mehr Plakate gezeichnet hat, als Thomas Müller für die INSELbühne. (Es dürften knapp 40 sein). In einem Programmheft der INSELbühne, natürlich gestaltet von Thomas Müller, räsonierte vor einigen Jahren ein Denker über die unsinnliche (und unsinnige) Bevorzugung, die die Tiefe vor die Oberfläche stellt. Das sei wenig nachvollziehbar, schließlich erlebten wir täglich die Oberfläche der Dinge; oberflächlich solle man doch bitte auch begreifen: als von erheblicher Ausdehnung und nicht etwa als von geringer Tiefe. Weiterlesen

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Lust spielt Sprache

:Wolfgang Krause Zwieback im Schauspiel Leipzig:
I. Wolfgang Krause Zwieback verbrennt an einem Abend so viele Ideen. Die Sprache ist sein Phönix, er ist ihr Adjutant und Kellermeister. Er greift sich einen Satz und destilliert aus der Sinnlichkeit der Sprache ihren Unsinn. Er rüttelt, gießt um und quirlt durch: Die Sprache strahlt und sprudelt, befreit vom Frondienst an der Wirklichkeit. Wenn Heine der Sprache das Mieder gelockert hat, ist Krause Zwieback ihr Lustknabe. Bei ihm kann sie sich vergessen. Was es bedeuten könnte, wenn die Sprache ihre eigene Sprache spricht, ist bei ihm zu erfahren. Weiterlesen

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Halle im Glück

:Nach einem Vierteljahrhundert Peter Sodann hat das Theater der Nachbarstadt einen neuen Intendanten. Das Leitungsteam um Christoph Werner erprobt frische Spielweisen:
Nach Halle sollte man mit der Bahn fahren. Der Weg vom Bahnhof ins Zentrum führt durch eine Fußgängerzone. Vietnamesische Bekleidungshändler ziehen ein paar Käuferinnen an, der klassische Einzelhändler sieht nicht viele Kunden, etliches steht leer. Bonjour tristesse? Zumindest ein nüchterner Empfang. Aber die Dinge sind wie sind; die Nachfrage bestimmt das Angebot. Und Halle hat kein Geld – und wohl auch keine Lust – das zu kaschieren. Weiterlesen

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Der Zögling

:Der jüngste Assistent Brechts:
Der Zögling von Peter Voigt. Mit Peter Voigt und Oliver Urbanski. Regie: Stefan Kanis. Redaktion: Katrin Wenzel. Ton: André Lüer. Schnitt: Christian Grund. MDR 2006. (Ursendung: 10.08.2006)

Peter Voigt war in den 50er Jahren der jüngste Assistent Bertolt Brechts. Vom Frühjahr 1954 an bis zu dessen Tod am 14. August 1956 erlebt er seinen Alltag mit: Die Probenarbeit am Theater, die Wohnung in der Berliner Chausseestraße, das Sommerhaus in Buckow. Er lernt Helene Weigel kennen, Elisabeth Hauptmann, Ruth Berlau. Seine Erinnerungen an diese Zeit hat der Filmemacher Peter Voigt in einer Art Selbstgespräch notiert und für MDR FIGARO gelesen. Peter Voigt, geboren 1933 in Dessau, Autor und Regisseur von Dokumentarfilmen, lebt heute in Berlin. Weiterlesen

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Allegra-Theater

:»Pussy Talk« – eine Abendunterhaltung in der Neuen Szene:
Oh Gott, gib uns ein Stahlgewitter – oder doch wenigstens Brigitte Reimann. „Who the fuck is B. Reimann“ schriebe dazu sicher irgendwer im Programmheft von »Pussy Talk«. In Sachen Reimann dürfen wir hier kryptisch sein, die Pussy-Brigade ergeht sich ebenso in Zeichen und Wundern – zumindest im Programmheft. Das regt die Phantasie an. Weiterlesen

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Mühsamer Spaß

:Molieres »Tartuffe« im Leipziger Schauspiel:
Matthias Hummitzsch ist unser Tartuffe. Die Leipziger City Lights zeigen uns sein großes rotes Herz. Das Motiv, klug ausgeborgt bei den Kitsch-Artisten Pierre et Gilles, annonciert die Heiligsprechung der Schönheit als Pop-Inszenierung. Die Zeichen deuten auf einen Kunstraum, auf eine Arena der Gesten, versprechen ein differenziertes Humorverständnis. Doch im Schauspielhaus kommt es anders. Ein mintgrünes Kulissenungetüm von Claudia Doderer nagelt die Schauspieler auf der Vorderbühne fest. Weiterlesen

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Don’t ask why

:Matthias Brenner inszeniert »Die Schönheitskönigin von Leenane« von Martin McDonagh:
Ein Londoner Autor, Jahrgang 1970, schreibt ein Stück über Iren. Er hat die Heimat der Eltern, die auf heilige Namen wie Galway und Limmerick lautet, in den Ferien regelmäßig besucht. Aber er schreibt kein Stück über Katholizismus und Whiskey. Die Iren des Martin McDonagh sind dekoloriert. Schwankende Gestalten ohne Ambiente, ihr Nationalstolz kommt nur im Negativ vor, als etwas, wofür man sich nichts kaufen kann. Möglich, dass das nie anders war. Doch das interessiert den Autor nicht. Alles was er braucht ist »ein Dialekt, eine kleine Geschichte und einige nette Charaktere«. Weiterlesen

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Witzigkeit als Sackgasse

:Ödon von Horvaths »Kasimir und Karoline« am Schauspiel Leipzig:
„Weil der Mensch ein Mensch ist – braucht er was zu Fressen, bitte sehr“. Kann man daran vielleicht was ändern? Der Veränderer Brecht geistert in Horváths Stück als intellektueller Eugen durchs Oktoberfestgeschehen. Wenn er seiner neuen Bekanntschaft Karoline einflüstert, daß die allgemeine Krise und das Private auf unheilvolle Weise miteinander verknüpft seien, herrscht sie ihn an: „Geh, redens doch nicht so geschwollen daher.“ Und was tut sie, die gute Seele: Sie kauft sich noch ein Eis. Horváth hat geahnt, daß mit dem Proletariat keine Revolution zu machen ist. Denn aus Ärger wird bei Horváth nicht Wut, sondern Stille. Weiterlesen

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Tückische Gegenwart

:FAMILIENGESCHICHTEN. BELGRAD in der Neuen Szene.
Die gründliche Faustinszenierung des Intendanten hat zu mancherlei Freude das Licht der Bühnenwelt erblickt – nun stürzt sich das Schauspiel auf die Gegenwart. Es gilt Lücken zu schließen. Mit Martin Crimps »Anschläge auf Anne« hatte man zwar beim Spektakel einen Hocker in die Raucherecke der neuen Unübersichtlichkeit gestellt und dann, wesentlich später, mit »Disco Pigs« noch mal nachgefaßt – aber nicht nur Sarah Kane ist am Spielplan vorbeigegangen. Auch in Deutschland gibt es neben Bukowski noch Autoren. Diese ‘Unbekannten’ sind längst Großstadtrepertoire. Weiterlesen

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Theater der Zukunft

:Die 9. »euro-scene« vom 2. bis 7. November in Leipzig:
Nun ist es doch noch mehr Geld geworden, als erwartet. Festivaldirektorin Ann-Elisabeth Wolff lächelt herzlich. Sie ist sich keiner Schuld bewußt. Mit einer Geste und einem Seufzer ordnet sie diese endlosen Kämpfe um die Fördergelder kurzerhand dem notwendigen Alltag zu. Darüber mehr Worte zu verlieren, hieße Aufmerksamkeit von denen abzuziehen, für die sie auf der Welt zu sein scheint: ihre Künstler. Ohne dieses Engagement – das kann als sicher gelten – wäre das Festival im kulturpolitischen Strudel längst untergegangen. Kulturdezernent Giradet attestiert auf der Pressekonferenz im Partnerhotel denn auch “fabelhaften Spürsinn” und “große Kennerschaft”. Er zögert nicht, von einer “stabilen Situation” zu sprechen. Die Stadt bestreitet mit 250000 Mark ein knappes Drittel des Festival-Budgets. Möglich, dass Leipzigs Kulturpolitik die signifikanten Unterschiede zwischen artifiziellen Renommierprojekten und anspruchsvollen kulturellen Mesalliancen (zu denen die »euro scene« vorstößt) bemerkt und zunehmend bedenkt. Weiterlesen

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Just a perfect day?

:Open-Air Spektakel »Urban Shots« hatte am vergangenen Freitag in Jena Premiere:
Nicht nur Leipzig hat ein Hochhaus, das sich niemand mehr leisten kann. Zumindest niemand aus der Messestadt, schon gar nicht die Universität. Auch in Jena verstirbt Tag für Tag ein solch charmantes Ungetüm, kreisrund und schön – ein nutzloser gewordener Zeuge sozialistischer Zukunftsträume. Hinter ihm ragt ein schicker Neubau, nicht ganz so hoch, aber ungeheuer zweckmäßig. Die nutzlose Vergangenheit wegzureißen, kommt zu teuer. Also konkurrieren sie, die beiden Gebäude. Konkurrieren, wie die verschiedenen Leben, die die Menschen in Ost und West hinter (und vor sich) haben. Aus diesem Stoff und dem Blick in eine unwirtliche Zukunft hat das Theaterhaus Jena ein anspruchsvolles, immens aufwendiges Freiluftspektakel entwickelt. Weiterlesen

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Mehr Typen!

:»Das Ballhaus« als Studioinszenierung in der Neuen Szene:
„Tango ist ein trauriger Gedanke, den man tanzen kann.“ Das ist der traditionelle Sinnspruch zum Thema Ballhaus. Ein Ort für den Krieg der Geschlechter. Hier zeigt er noch Würde und Kraft wenn er sich in Form entlädt, sich in ihr haltend, ihre Grenzen doch endlos erweitert. Man und Frau können sich zwar nicht entbehren, aber verstehen werden sie sich nie – das ist die Trauer des Tangos. Im Ballhaus schwebt etwas von dieser Stimmung – und von der Hoffnung, es könne so etwas wie Glück geben. Doch das alles liegt uns nicht, wenn wir Deutschen in verbeulter Freizeithose und „rüssel fläz gähn“ -Stimmung mit der Legion Condor nach Mallorca fliegen. Weiterlesen

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Tradition im Pop-Mantel

:Defätistische Anmerkung zu „Dschungel L.E.“:
Theaterspektakel Dschungel L.E. Letztens sprachen wir an dieser Stelle vom ‘Theater’ im ‘Spektakel’. Von den einzelnen Inszenierungen im Dschungel L.E. Da gab es Höhepunkte und Schwachstellen. Am Rande standen Erwägungen zum Fest-Charakter der Veranstaltung. Wollen wir heute vom Pop sprechen. Wollen wir zum Beispiel die Frage stellen, warum Jim Whitting ins Schauspielhaus kommt und nicht das Schauspiel zu Jim Whitting. Wollen wir eine defätistische Überlegung anstrengen zum Anachronismus des Stadttheaters und zur ‘hegemonialen Kultur’. Weiterlesen

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Dschungel L.E.

:Fünf aus zwölf Ansichten vom Fest:
I. Freitags 17 Uhr. Zwei Stunden vorm Spektakel ist die Bosestraße noch leer. Die Leiteinrichtungen der Werbestrategen weisen den zahlreich erwarteten Fremden den Weg vom Schauhaus zur Neuen Szene. Allein der Kollege mit der Goulaschkanone steht schon Suppe bei Fuß. Es ist kühl, sein Ofen heiß, er ist gut vorbereitet. Die Theaterschlacht kann beginnen. Zwei Stunden später entscheide ich mich für eine Bockwurst. Beim Abbeißen sinniere ich über das durchgestrichene DDR-Logo. Ein Abend zwischen weicher Wurst und deftiger Kapitalismuskritik? Weiterlesen

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Ökonomie und Hormone

:Brecht wird 100:
Über der Kantine des Berliner Ensembles hängt eine großes Spruchband: „Wer immer es ist, den ihr sucht: ich bin es nicht. Brecht.“ Brecht ehren – aber wie? Der „große Raucher“ gilt als expliziter Kritiker der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Was die Welt im innersten zusammenhält war für ihn seit den zwanziger Jahren klar: die politische Ökonomie. Der Mensch ist vor allem Ware. „Ich weiß nicht, was ein Mensch ist / Ich kenne nur seinen Preis“ singt der böse Reishändler bei Brecht. Oder die Poesiealbumverse des Bettlerkönigs Peachum aus der »Dreigroschenoper«: „Wer möchte nicht in Fried und Eintracht leben? / Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so!“ Das private Elend des Menschen als Folge der Ausbeutungs- und Abhängigkeitsverhältnisse – das ist der zentrale Konflikt der ‘großen’ Brecht-Stücke, das sind die Motive des „Sezuan“, des „Kreidekreises“, des „Galilei“. Auch der Augsburger Rebell hat seinen Marx gelesen. „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“. So kennen wir unseren Brecht aus dem Schulbuch. Weiterlesen

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Dekoration oder Anspruch?

:Sieben Jahre Leipziger »euro-scene«:
Die Messestadt Leipzig zehrt vom Ruhm vergangener Tage: Die Theaterreform der Neuberin – sekundiert vom trockenen Gottsched, die Leipziger Mustermesse – zu Honeckers Zeiten Ost-West-Drehscheibe und Objekt der vielfältigsten ökonomischen Begierden, das Gewandhaus – die Zentrale der musikalischen Hochkultur außerhalb Ostberlins. Und schließlich: der ‘89er Herbst als Hort der friedlichen Revolution. In den Leipziger Montags Demonstrationen schürzt sich denn auch in Leipzig der Knoten wirklichen Ereignens. Nach der Wende versinkt die sächsische Metropole in den Kämpfen und Krämpfen der Existenzsicherung. Es greifen beispielhaft alle Maßnahmen der fiktionalen und spekulativen Wirtschaftspolitik. Leipzig wird zum Banken-Zentrum des Ostens geadelt. Der „Spiegel“ erhebt die mittlere Großstadt in einer Titelgeschichte zur Metropole der Dreißigjährigen. In den Aufbau der Neuen Messe fließen Hunderte Millionen. Allerlei Unternehmensberater erwägen das zukünftige Image der Stadt. Messestadt Leipzig, Kulturstadt Leipzig, Kongreßstadt Leipzig. Spekuklantenstadl. Verwaltung der Stagnation einerseits und hemmungsloser Zweckoptimismus andererseits verdrängen wiederum innovative Impulse. Der Ärger bleibt freilich nicht aus. Der sächsische Rechnungshof weist seinem Gewandhaus unvertretbare Überausgaben nach, die superteure Mustermesse spielt noch lange keine internationale Rolle und auch die Darstellende Kunst erinnert verdammt an Gottsched. Dieser hypertrophierten Durchschnittlichkeit entspricht zu guter letzt auch noch der Mangel an journalistischer Reflexion. BILD und Leipziger Volkszeitung sind die einzigen örtlichen Tageszeitungen, beide aus dem Hause Springer. Weiterlesen

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Mein Ehrgeiz geht auf eine bunte Kappe?

“Ich muß jetzt albern sein”, sagt Hamlet zu seinem Freund Horatio, dann drehen sich beide zum Publikum und rufen spitzbübisch “Pause”. Zu diesem Zeitpunkt hat mich schon stille Verzweiflung umfangen. Wer begreift, was hier gespielt wird? Oder besser noch: Warum? Gegeben wird Hamlet. “Klassikerspielzeit” auch im Lindenfels. Doch einfach ist die Sache nicht. Die ‘Sache’ beginnt mit einem Theater gewordenen Programmhefttext. Heiner Müller sagte einmal, man müßte die Toten ausgraben wieder und wieder… Nachzulesen als Inszenierungsmotto im Monatsplan der Schaubühne. Beim großen Schlachten in Helsingör bleibt einer übrig: Horatio, Hamlets Freund. Dieser greift nach Heiner Müllers schwarzen Kleidern und läßt die Schauspieler die blutigen Vorgänge um Dänemarks Geschicke, also »Hamlet«, nachspielen. Müller ist nicht leicht zu verstehen und “Schauspieler sind dumm”, also gibt sich Horatio Mühe und übersetzt die monadische Geschichtsphilosophie fürs Volk: “Laßt uns die Toten ausgraben und befragen, denn sie könnten uns einiges zu sagen haben.” Damit dieser Ansatz der analytischen Nacharbeit des Publikums nicht verlorengeht, ist er im Programmheft festgehalten. Und Nachlesen lohnt sich, weil die Inszenierung Wort hält: Sie schiebt sich durch den Text im Gestus des “ja und dann kam doch noch der…”. Weiterlesen

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Schattierungen der Tradition

In Leipzig geht die als „Klassikerspielzeit“ beworbene Inszenierungsfolge in ihre zweite Hälfte. Goethes »Clavigo« steht neben dem neuen Jelinek-Text »Stecken, Stab und Stangl« gefolgt von einer Bearbeitung nach Assi Dayans Spielfilm „Life according to Agfa« wiederum gefolgt von Schillers »Kabale«. Die „Klassikerspielzeit“ bedient Publikumsvorlieben und will sich gleichzeitig Gegenwartsstoffen nicht verschließen. Wer Korrespondenzen und Verbindungen zwischen den Sujets ausmachen will, wird sie allemal finden: In beiden Klassikern scheitert eine junge Liebe an der aromantischen Gegenwelt der Karrieren und des Standesdünkels. Dayan und Jelinek dagegen reflektieren über die Auswüchse der alltäglichen Gewalt der Zivilgesellschaft. Allen kann ein entschlossener Zugriff aufs Material bescheinigt werden. Die Wagnisse freilich sind unterschiedlich. Weiterlesen

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Theater mit den Verkehrsbetrieben

:KOPFLOS – Eine Inszenierung im Straßenbahnhof Leutzsch nach einer Idee aus Michail Bulgakows „Der Meister und Margarita“:
„Kurzum, es war ein ekelhafter, widerwärtiger, attraktiver, schweinemäßiger Skandal“ – so rühmt Bulgakow in zielsicheren Attributen die ersten Auswirkungen eines unerhörten Zwischenfalls an den Moskauer Patriarchenteichen zu Zeiten der NÖP (Für alle Jung- oder Westdeutschen: Neue ökonomische Politik). Eines Zwischenfalls der ein Stück Weltliteratur einleitet. Kein geringerer als der Diabolus selbst begibt sich samt Hofstaat in die Hauptstadt der Sowjetrepubliken, um einigen voreiligen Atheisten zu zeigen, wo Gott wohnt. Und da rollen natürlich Köpfe: Ein Literaturtechnokrat gerät unter die Trambahn – und nur weil es der Antichrist vorhergesagt hat, wird er gleich verteufelt. Weiterlesen

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Wesen bitte nicht schleudern

:Kazuko Watanabe inszeniert »Stecken, Stab und Stangerl« von Elfriede Jelinek:
Überlegung anhand von Watanabes Handarbeit nach Jelineks Musterbuch: Wird ein Kunstwerk seinem ‘Stoff’ gerecht? Sollte es das, kann es das? Der ‘Anlaß’ für Jelineks Text ist ein ‘heikler’. Die heimtückische Ermordung von vier Roma im österreichischen Oberwart vor zwei Jahren. Stoffe gelten als heikel, wenn sie die spielerische Autonomie der Kunst zu verlassen drohen, wenn die Künstler Gefahr laufen, sich neben ästhetischer auch moralische oder gar juristische Kritik aufzubürden. Indem die Jelinek sich diesem Vorwurf aussetzt, führt sie ihn ad absurdum. Die Autorin entfaltet aus diesem Mord ein Psychogramm der denkfaulen, biederen Wohlstandsgesellschaft. Sie legt auf das Intelligenteste offen, wie Fremdenverkehr und Fremdenfeinlichkeit, Apathie und Fernsehhysterie zusammengehen und sich bedingen. Vorauseilender inszenatorischer Gehorsam könnte freilich diese erhellenden Zuspitzungen allemal zuschanden machen. Eine politisch korrekte, kein Schamgefühl verletzende, ausgewogene, hohlwangige Inszenierung wäre das Ende der Jelineksschen Bemühung um groteske Deutlichkeit. Weiterlesen

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Über den Wolken?

:Studenten am Leipziger Schauspiel:
Es gibt so Traumberufe. Kosmonaut wollten viele mal werden – oder wenigstens Flugzeugkapitän. Später dann zum Schreck der Eltern: Schauspieler. Raus aus dem Alltag, der Ruhm wartet nicht. Und schon beginnen die Probleme, denn: Es darf nicht jeder. Vor den Preis hat der Herr den Schweiß gesetzt. Und das heißt in Deutschland in aller Regel: Die Ausbildung an einer der 19 von der öffentlichen Hand betriebenen Schauspielschulen mit dem Diplom abzuschließen. Weiterlesen

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Ästhetisch provokant, sozial geerdet

:Fünftes MANöVER – Festival des Freien Theaters in Leipzig:
Nieselregen fällt auf den unwirtlichen Hof der Kulturfabrik Werk II. Die Kneipe hat aus innerbetrieblichen Gründen geschlossen. Kalt ist es sowieso. Trotzdem sammeln sich knapp hundert Leute zu den Highlights des MANöVERS. Dem Veranstalter fällt ein Stein vom Herzen. Wer kennt in Leipzig schon Stefan Pucher, wer besucht schon deutsch-griechische Koproduktionen in englischer Sprache. Missionarsarbeit Jahr für Jahr. Weiterlesen

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… Frühling läßt auf sich warten

:König Richard III. am Schauspiel Leipzig:
Warum eigentlich »Richard III.«? Klassikerspielzeit, na gut. Aber Shakespeare hat vieles geschrieben. Warum also die Geschichte des ungeheuerlichen Machtmenschen, des blutigsten Intriganten der Weltliteratur. Die Inszenierung, so war man sich in Leipzig sicher, wird’s erweisen. Hatte Engel doch mit seinem famosen Wiener »Titus« bewiesen, daß er noch der aggressivsten Motorik des Mordens Emotion und Motivation zuordnen kann. Phönix flieg! Das Bodenpersonal zittert mit. Weiterlesen

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It sounds good

:CAT SAID: ONE… Surreales Theater nach Leonora Carrington in der Schaubühne im Lindenfels:
In Fortsetzung der Performance-Tradition der Schaubühne wird das Publikum in die Unterbühne gebeten. Erste Wahrnehmung: der modrige Geruch feuchter Altbaukeller. Eine leise Stimme. Englisch, später Deutsch, auch Französisch. Groteskes mechanisches Spielzeug, sehenswert. Konversation dreier Taschenlampen – dreisprachig. Ein Huhn wird zubereitet; scharf angebraten, mit reichlich Rotwein abgelöscht. Zäsur per Geruchswechsel. Von einem Dinner sprachen auch die drei Figuren schon. Arrangiert für eine gerade 18 jährige. Belauert von ihren abgelebten Eltern zieht, als noch der Moder den Raum beherrscht, latenter Erotismus durchs Gemäuer. Lulu Faber, David Jeker und Anka Baier artikulieren ihre Böswilligkeiten auf höchstem Niveau – it sounds good. Dann ein Bruch – Szenen/Ebenen/Blickwechsel. Andere Namen – anderes Personal; ein Text, vielleicht von Carrington, verselbständigt sich: Aus einem Buch seitenweise herausgelesen drängen Figuren ins Bild. Weiterlesen

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Patchwork der Minderheiten

MANöVER ’96 – Festival des Freien Theaters in Leipzig Keine Jahresvorschau eines Stadttheaters ohne die Verpflichtung, am Puls der Zeit sein zu wollen: Kaum ein Haus, daß je sein Versprechen eingelöst hätte. Man müht sich, doch die alten Helden taugen … Weiterlesen

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Festival im Off

:MANöVER und euro-scene im Herbst 1995:
Das Konzept der MANöVER-Festivals scheut Weltläufigkeit um ihrer selbst Willen wie das gebrannte Kind das Feuer. Es begibt sich auf die Suche nach Inszenierungen, die auch und gerade in hoher Künstlichkeit, von der Präsenz des Außerkünstlerischen inspiriert, spiritualisiert, auch vergewaltigt werden. Als Qualitätsmaßstab wird die Bewältigung dieses Widerspruchs in der jeweiligen Inszenierung erkennbar. Damit bezieht das MANöVER in der Diskussion um die Spezifik des Freien Theaters einen streitbaren, aber einen erkennbaren Standpunkt. Das Festival wechselt jährlich zwischen deutschen Off-Theater-Produktionen und einer konzeptuell focusierten Umschau im Ausland. Diese Konturierung ist noch jung, verspricht allerdings fruchtbarer zu werden als der Gemischtwarenladen des großen, ungleichen Leipziger Bruders euro-scene. Das 95er Festival unternahm den Versuch, aus der reichen Szene Ljubljanas, Hauptstadt des als Nationalstaat jungen Sloweniens, einen repräsentativen Querschnitt vorzustellen. Weiterlesen

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