Wesen bitte nicht schleudern

Kazuko Watanabe inszeniert »Stecken, Stab und Stangerl« von Elfriede Jelinek

Überlegung anhand von Watanabes Handarbeit nach Jelineks Musterbuch: Wird ein Kunstwerk seinem ‘Stoff’ gerecht? Sollte es das, kann es das? Der ‘Anlaß’ für Jelineks Text ist ein ‘heikler’. Die heimtückische Ermordung von vier Roma im österreichischen Oberwart vor zwei Jahren. Stoffe gelten als heikel, wenn sie die spielerische Autonomie der Kunst zu verlassen drohen, wenn die Künstler Gefahr laufen, sich neben ästhetischer auch moralische oder gar juristische Kritik aufzubürden. Indem die Jelinek sich diesem Vorwurf aussetzt, führt sie ihn ad absurdum. Die Autorin entfaltet aus diesem Mord ein Psychogramm der denkfaulen, biederen Wohlstandsgesellschaft. Sie legt auf das Intelligenteste offen, wie Fremdenverkehr und Fremdenfeinlichkeit, Apathie und Fernsehhysterie zusammengehen und sich bedingen. Vorauseilender inszenatorischer Gehorsam könnte freilich diese erhellenden Zuspitzungen allemal zuschanden machen. Eine politisch korrekte, kein Schamgefühl verletzende, ausgewogene, hohlwangige Inszenierung wäre das Ende der Jelineksschen Bemühung um groteske Deutlichkeit.

Liebe Frau Watanabe: Meinen aufrichtigen Dank, daß sie das Gegenteil tun. Sie bauen auf die Hinterbühne des Schauspielhauses einen Spielraum, der sich soviel an Ausstattung gönnt, wie nötig ist, daß aus dem ‘Stoff’ das werden kann, was er hier werden soll: etwas anderes, etwas mehr. Für den Umriß des Handlungsraumes zwischen Kirche und Fernsehstudio reicht ein weniges: schwere Goldborten und Studiobeleuchtung. Die erschreckende Enttarnung der vier Kleinbürger vollziehen sie dagegen als sinnliche Orgie der Einspinnung in die eigenen pseudogemütlichen Lügen. Die Akteure versinken über 90 Minuten in einem kleinen Chaos aus Häkelkleidung verschiedenster Fertigungsstufen. Kostüm und Bühnenbild verschwistern sich und treten in ein neue Stufe des Erzählens: Die Furie des Kleinbürgers steht vor uns auf.

Nun freilich, die Furien sind keine leblosen Puppen. Der Abend wird mit den Spielern zu dem, was er ohne Zweifel ist: die darstellerisch überzeugendste Arbeit seit langem. (Nur Emmig-Könnigs »Drang« – Inszenierung kann hier mithalten.) In der Inszenierung von Watanabe spielen Martina Eitner-Acheampong, Jürgen Maurer, Friedhelm Eberle und Karin Pfammatter. Die drei Leipziger so gut wie noch nie. Gut mag hier als klar verstanden werden. Gefördert werden die jeweiligen Fähigkeiten und Vorzüge. Der Typ, man mag ihn schätzen oder nicht, ist präzise herausgearbeitet, ausgereizt und doch von dekorativen Zugaben befreit. Allen voran: Die Pfammatter, ein zierliches Geschöpf kaum zu definierenden Alters, dessen Bosheit mit der unerschöpflichen Stimme wetteifert.

Der Inszenierung ist reichlich Publikum zu wünschen, kritisches Publikum, das es in Leipzig hoffentlich noch gibt.

Stefan Kanis (KREUZER, März 1997)

Schauspiel Leipzig | www.schauspiel-leipzig.de

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