Ein Dialog mit Jacob Böhme
Ausschnitt aus »Zugluft im Weltgefüge«
Zugluft im Weltgefüge |
von Ruth Johanna Benrath.
Mit Jens Harzer, Birte Schnöink, Carolin Wege und Regina Lemnitz. Komposition Janko Hanushevsky Viola da Gamba Nathan Bontrager Ton Holger König Schnitt Christian Grund und Steffen Brosig Regie Stefan Kanis
Erstsendung MDR KULTUR, 11. November 2024
Inhalt | Presse
Welche Farbe kommt Schnee am nächsten? Bläuliches Weiß oder weißliches Blau? Schneerosa? Ein buntes Nichts? Beseeltes Wasser? Wohnt Gott dort, wo es unendliche Formen gibt: Im Kristall? Ruth Johanna Benrath verabredet sich mit Jacob Böhme zu einem Dialog der Freiheit. Der Görlitzer Mystiker (und „erste deutsche Philosoph!“) macht sich Gedanken, ob der Himmel im Mund des Menschen genug Platz hat. Und vertraut ihm – in Gottes Auftrag – die Welt an: „Denn keine Creatur kan der Welt Wunder an Tag und ans Licht bringen, als der Mensch.“ Diesen Vorschuss an Zuversicht muss die Autorin nach vierhundert Jahren ergänzen: „Zuerst hat der Mensch den Wald verbrannt, dann die Elefanten, dann die Sonne und dann sich selbst“.
Wie eine Doppelhelix ziehen Böhme & Benrath in je eigener Stimmung eine Linie, die eine Kurve ist. Zum Anfang dessen, was wir über uns wissen, item: über Gott & die Welt. Jacob Böhme lebte von 1575 bis 1624 in Görlitz. Er gilt als einer der bedeutendsten Mystiker deutscher Zunge. Sein Denken verknüpft Ansätze zur inneren Freiheit des Menschen, zur Natur als Vor- und Sinnbild und zur weiblichen Seite der Erkenntnis. Sein Nachruhm ist immens.
Ruth Johanna Benrath (*1966 in Heidelberg) schreibt Gedichte, Romane, Hörspiele und Theatertexte. Ihr Hörspiel „Geh Dicht Dichtig!“ wurde von der Jury der DADK zum „Hörspiel des Jahres 2019“ gewählt. Sie erhielt zahlreiche Preise und Stipendien, darunter den Münchner Lyrikpreis 2021 für das Langgedicht „PSALM / aus der tieffen“, das der MDR 2022 als Hörspiel produzierte.
Presse
Ein Hund bellt, eine Kutsche rattert vorbei, Blätter rauschen im Wind. Das ist in den ersten Minuten des sehr poetischen, magisch schwebenden Hörspiels Zugluft im Weltgefüge das Fassbarste, obgleich einen auch diese naturalistischen Geräusche in eine Vergangenheit schubsen, in der man fremd ist und bleiben wird. Jens Harzer spricht dazu einen altertümlichen, rätselhaften Text, beides wird miteinander verwoben durch eine für ihn typische Komposition von Janko Hanushevsky, interpretiert von Nathan Bontrager an zwei Streichinstrumenten, Viola da gamba und Nyckelharpa: fluid und doch manifest, nicht bloße Untermalung, sondern Interpretation. Die Autorin Ruth Johanna Benrath tritt auch hier wie in vielen ihrer Hörspiel-Arbeiten in einen Dialog mit verstorbenen Künstlern und deren Werken. (…)
In ihrem Langgedicht PSALM / aus der tieffen, das Stefan Kanis vor zwei Jahren für den MDR als Hörspiel inszeniert hat, begibt Benrath sich auf eine poetische Irrfahrt in die Gedankenwelt Martin Luthers und seiner Bibelauslegung. Kanis hat auch Benraths neues Hörspiel inszeniert, Zugluft im Weltgefüge, das ebenfalls einen starken Glaubensbezug hat. (…)
Jakob Böhmes Denken war noch sehr an der mittelalterlichen Weltsicht orientiert, hat sich aber bereits in einer Richtung orientiert, die einmal in die Aufklärung münden sollte. Benrath nimmt die Gedanken auf, denkt sie weiter bis in unsere Gegenwart. Sie lässt, deshalb der wunderbare Titel ihres Hörspiels, Böhmes gedankliche Zugluft durch das Weltgefüge brausen, konfrontiert das religiöse mit einem rationalen Denken. Es sind weitsichtige, existenzielle Gedanken, die Böhme und Benrath da formulieren, über das irritierende Verhältnis des Göttlichen und des Menschlichen zueinander. Die Weltsicht ist hier nicht zu trennen vom sprachlichen Vermögen, diese auszudrücken. An diesem Punkt tritt Zugluft im Weltgefüge in einen funkelnden Dialog mit dem Hörspiel „Vokabelmeer“ des Künstlerduos Liquid Penguin Ensembles, (…) Beide Stücke sind sprachmächtig, klug, subtil, verspielt und lehrreich. Und sie beharren darauf, dass erst Kunst, Kultur und ein kreativer Gebrauch der Sprache die Welt erklärbar und verständlich machen.
Stefan Fischer, Süddeutsche Zeitung, 11.11.2024