Brecht wird 100
Über der Kantine des Berliner Ensembles hängt eine großes Spruchband: „Wer immer es ist, den ihr sucht: ich bin es nicht. Brecht.“ Brecht ehren – aber wie? Der „große Raucher“ gilt als expliziter Kritiker der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Was die Welt im innersten zusammenhält war für ihn seit den zwanziger Jahren klar: die politische Ökonomie. Der Mensch ist vor allem Ware. „Ich weiß nicht, was ein Mensch ist / Ich kenne nur seinen Preis“ singt der böse Reishändler bei Brecht. Oder die Poesiealbumverse des Bettlerkönigs Peachum aus der »Dreigroschenoper«: „Wer möchte nicht in Fried und Eintracht leben? / Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so!“ Das private Elend des Menschen als Folge der Ausbeutungs- und Abhängigkeitsverhältnisse – das ist der zentrale Konflikt der ‘großen’ Brecht-Stücke, das sind die Motive des „Sezuan“, des „Kreidekreises“, des „Galilei“. Auch der Augsburger Rebell hat seinen Marx gelesen. „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“. So kennen wir unseren Brecht aus dem Schulbuch.
Der kluge Kopf – Zigarre und Mao-Jäckchen – glaubte zu wissen, warum die Armen ärmer und die Reichen reicher werden. Trotz Brecht hat sich bis auf den heutigen Tag daran wenig geändert. Zumal seit seinem Tod 1956 das Abendland wieder einige Jahrzehnte älter geworden ist. Die sozialen Gemenglagen zwischen Globalisierung, Informationsgesellschaft und Umweltzerstörung gestalten sich weitaus komplizierter, als sich in Parabelstücken beschreiben läßt. Der Aufklärerkollege Theodor W. Adorno nannte Brechts Themenstellungen und Dramaturgie bereits in den vierziger Jahren kurz und knapp: „vorindustriell“. Und so ist es seit je ein Kreuz mit Brecht: Die einfachen Wahrheiten reichen vielleicht für ein Küchen- oder Kampflied und helfen, die Welt in Freunde und Feinde zu teilen. Aber sie fassen den Menschen eben nur als politisches Wesen auf. Irrationales kommt beim guten BB nur als Randerscheinung vor. Den einfachen Wahrheiten der großen Stücke fehlt die tragische Komplexität und – die Hormone. Aber der Mensch ist eine runde Sache, oft genug tanzt ein Glied aus der Reihe und „versteift sich auf seinen eigenen Vorteil“, wie Brechtschüler Heiner Müller so schön sagt.
Doch es gibt mehr als einen Brecht. Zum Beispiel den jungen. Auch ihm war die Welt ein Käse, der Löcher hat. Der Bursche dichtete mit 20 Jahren zum Beispiel folgendes: „Hat ein Weib fette Hüften, tu ich sie ins grüne Gras. / Rock und Hose tu ich lüften, sonnig – denn ich liebe das.“ So, wie der junge ins Kraut schießt, relativiert der alte die Fraktur des Politischen durch die Erfahrung der gelebten Jahre. In den „Buckower Elegien“ ist das nachzuschlagen. In allem bleibt Brecht natürlich eins: ein Meister. Die Stringenz und Klarheit seiner Stücke ist vorbildlich, die sanft-suggestive Komposition seiner Lyrik extrem ‘zielführend’. Und was Dialektik ist, kann man bei ihm vorzüglich studieren.
Was liest man von Brecht zum Hundertsten am besten? Das ist falsch gefragt. Die richtige Frage lautet: Wie? Und die ist schnell beantwortet: Gründlich aber querbeet. Und eine Empfehlung an alle, die dieses Jahr etwas mit ihm ‘vorhaben’. In jedem Falle gilt Heiner Müllers Wort: „Brecht zu gebrauchen, ohne ihn zu kritisieren, ist Verrat.“ In diesem Sinne – herzlichen Glückwunsch, Bertolt.
Stefan Kanis