»Familiengeschichten. Belgrad« in der Neuen Szene.
Die gründliche Faustinszenierung des Intendanten hat zu mancherlei Freude das Licht der Bühnenwelt erblickt – nun stürzt sich das Schauspiel auf die Gegenwart. Es gilt Lücken zu schließen. Mit Martin Crimps »Anschläge auf Anne« hatte man zwar beim Spektakel einen Hocker in die Raucherecke der neuen Unübersichtlichkeit gestellt und dann, wesentlich später, mit »Disco Pigs« noch mal nachgefaßt – aber nicht nur Sarah Kane ist am Spielplan vorbeigegangen. Auch in Deutschland gibt es neben Bukowski noch Autoren. Diese ‘Unbekannten’ sind längst Großstadtrepertoire. Aber was, fragt der Dramaturg hüstelnd, bringt der ganze Seelenschrott der Outlaws unter 40. Söhne schlachten die Eltern, dann sich und dann wieder die Eltern. Wen interessiert das? Bellt man mit solchen Stücken nicht den falschen Mond an? Und die ganze Rammelei kommt dann schön eins zu eins mit viel Kunstblut und guter Falltechnik auf die Bretter. Und das Kulturpublikum schaut begeistert/betroffen/angewidert in eine Szene, die nichts mehr verarbeitet, sondern nur noch zeigt. Ecce homo. Und so wie der Heiland für uns am Kreuz hängt – unerreichbar und schön – so massakrieren sich die Randgruppen zu unserer Erbauung. Aus diesen neuen Tragödien ist nichts zu lernen. Die Bühne wird zum Zoo. Das wissen die Dramaturgen natürlich – und auch, dass ein Zoo für Leipzig genug ist. Aber Trends müssen ihren Glanz beim ausprobieren verlieren. Auch in Leipzig. Deshalb sind ein Drittel aller Premieren der neuen Spielzeit explizite Gegenwartstitel der ‚neuen Linie‘.
Doch die ‘neue Linie’ kennt viele Varianten. In Biljana Srbljanovićs »Familiengeschichten. Belgrad« fällt das Beil des Schicksals nämlich immer nur zur Hälfte. Die gewalttätigen Verhältnisse könnten eben doch auch andere sein, wenngleich sich die Alternativen gegenseitig Fratzen schneiden. Die Fratzen, dass sind die Wirklichkeiten der Bürger von nebenan, die uns drei Kinder vorspielen. Als Mama, Papa, Sohnemann. Der Ort ist ein Spielplatz in Belgrad: Buddelkasten, Klettergerüst, Mülltonnenbunker. Links die Rakete des Sozialismus. Der Boden dieser steinernen Ungemütlichkeit ist ein biederer Teppich, der sich im Hintergrund als Wall erhebt. Die Kinder haben ihre Lektion über die Alten gelernt. In vier Runden mit Zwischenspielen sezieren sie den Horizont der Kleinbürgerlichkeit in seiner hausbackenen, intellektuellen, geizigen und nationalistischen Abschattung. Eine Repressionsgeschichte ist es in jedem Fall. Andreas Rehschuh gibt den Vater, Friderikke-Maria Weber die Mutter und Oliver Kraushaar den Sohn. Wie muß man sich das vorstellen? Als eine Mischung aus Kaspertheater und Strindberg. Das hat seine Gründe. Wenn Kinder Erwachsene spielen, neigen sie dazu, zu vergröbern. In ihrer Logik holt der böse Mann den Knüppel aus dem Sack – und das war’s. Wenn hingegen eine Autorin über die Mikrostruktur einer beschädigten Gesellschaft schreibt, sind ihre Figuren vielschichtiger als ein Scherenschnitt. Was bezweckt also die Autorin, wenn sie erwachsene Schauspieler nötigt, Kinder zu spielen, die ihre Eltern spielen? Sie zwingt die Akteure und uns, die Brille zu wechseln. Brecht hätte es Verfremdung genannt. Diese verzwickte Angelegenheit nimmt Regisseur Karsten Schiffler um einige Grade zu leicht. Die Figuren gehen über weite Strecken miteinander um wie in einer Sit-Com. Schräge Blicke, große Augen, kreischende Stimmen, bewußt überzogene Emotionen. Aus diesem Grundton brechen immer wieder Eruptionen realer Aggressivität hervor. Das trägt eine Weile. Auch spielen die drei Akteure in dieser Vorgabe präzise und handwerklich überzeugend, allein Webers Frauchen wirken gelegentlich etwas plattgehobelt. Aber das ist für den Abend zu wenig. Die Regie macht nichts falsch und bleibt damit unter den Möglichkeiten des Textes. Das beginnt schon bei der Besetzung. Sämtliche Darsteller sind Endzwanziger oder jünger. Man schaut sich die jungen Kollegen als Behelfs-Kinder schön. Damit zerrinnt die Absicht der Autorin. Wirkliche Fünfziger, die genötigt sind, durch die Brille eines Kinderspiels sich selbst in die Seele zu schauen – spielen ein gewagteres Spiel. Auch als Schauspieler.
So bleibt letztlich die vierte Figur der Kraftquell des Abends. Um das Dreigespann kreist ein tief verletztes Wesen. Sie ist für die anderen nur der Hund, ein Tier. Fast ohne Wortsprache läßt sich Susanne Buchenberger auf diesen Köter ein. Wach, intensiv und ohne Eitelkeit gibt sie dieser Kreatur leben. Ob dies die schwierigste Rolle des Abends ist, mag dahingestellt sein; sie zeigt jedoch, welche Mittel nötig sind, um den Text und das Publikum zu häuten.
Stefan Kanis (KREUZER, Nov 1999)
Schauspiel Leipzig | »Familiengeschichten Belgrad« von Biljana Srbljanovic | Premiere: 02.10.99 | Regie: Karsten Schiffler | www.schauspiel-leipzig.de