Die Connewitzer Cammerspiele installieren Remake eines Ferreri-Klassikers in der naTo
Wie viele Filme gibt es, in den Marcello Mastroianni, Michel Picolli, und Philippe Noiret gemeinsam vor der Kamera standen? Wahrscheinlich genau einen. „Das große Fressen“ von 1973. Eine obskurer Abgesang auf die hohe Zeit ‚spätrömischen Dekadenz’, um mit Guido Westerwelle zu sprechen. Eine Theater-Adaption des Klassikers brachten nun die Cammerspiele auf die Bühne der naTo.
Vier Freunde, alles gehobenes Bürgertum, beschließen ihrem kapaungesättigten Leben in einer finalen Orgie ein glanzvolles Ende zu bereiten. Sterben an gutem Essen und etwas Sex im Delirium. Der Film hat Größe, weil man vieles in ihm sehen kann: Konsumkritik und Endzeitstimmung, blankes Bacchantentum oder Borderline-Syndrom, Sinnenfest und reines Lust-Spiel. Dass Eros und Tod zusammengehören, hat nicht erst dieser Film entwickelt, aber er zeigte es herausragend. Von den Schauspielern ganz zu schweigen.
Das Programmheft der Inszenierung ist ein Kassenbon von Aldi. Womit die prekären Schichten, die Dr. Guido als neue Dekadente ausgemacht hat, plötzlich mit am Tisch sitzen. Die Liste ist endlos und alles zusammen kostet doch nur 85 EUR. „Naturkäse“ ist auch dabei: eine entlarvende Tautologie, die das Niveau andeutet, auf dem das Prekariat zu speisen hat. Der Spagat könnte also für Spannung sorgen. Dieses große Fressen wird nicht von den Galeries Lafayette gesponsert und auch die, die es fürs Publikum veranstalten, mögen anderes damit im Sinn haben.
Diese Spur nimmt der Abend jedoch nicht auf. Thomas Deubel, Ricardo Endt und Christian Feist sitzen um ein Tischquadrat auf der Vorderbühne. Katja Fischer liegt auf dem Hochalter im Hintergrund als Nachspeise bereit. Man trägt Halstuch, Pullunder und rosa Hemd, die Dame antikisierende Robe – und pflegt eine gehobene Sprache. Die Figuren dürfen sich, wie ihre Vorbilder, Marcello, Philippe und Michel nennen und ihnen auch im Habitus nacheifern. Nur, was im Original die Nieren in Burgunder sind, kommt in der naTo als Presswürstchen mit Darm. Aldi eben. Mit diesem stupenden Widerspruch fängt Regisseurin Elisa Jentsch aber nahezu nichts an. Die vier Akteure spielen sich wacker durch den Plot, setzen auch hier und da eigene Akzente, aber werden doch die fremden Kleider nicht los. Mit jeder Minute, die vergeht, leiden die Figuren an zunehmender Atemnot, die ihnen die unlösbare Aufgabe aufbürdet. Was die Regie offenbar erwartet – dass junge Leute Mitte zwanzig, die quälende Ambivalenz aus Lust, Tod und Satire erspielen, die ihre doppelt so alten Vorbilder, noch hinter dem schützenden Verdeck filmischer Inszenierung, gestemmt haben – ist mehr als ehrgeizig.
Am Schluss, wenn dutzende Puddings ausgeschlürft und einige Sexualakte angedeutet worden sind, und die Bühne aussieht, wie bei einem frühen Castorf, setzt sich der letzte der drei jungen Männer zum Theatersterben vor die Videokamera. Vom Stolz der Armut spricht er, von der Sehnsucht nach Unmittelbarkeit. Und plötzlich ist ein interessanter Ton im Raum. Auch die Jugend kann das Leben auf der Smoothie-Sonnenseite satt haben. Bis dahin sucht die Inszenierung diesen Aufbruch jedoch in der Anverwandlung an einen Kultfilm der Väter-Generation. Das scheint selbst wie eine gedankliche Delikatesse, derer man doch eigentlich überdrüssig war.
Stefan Kanis
(Leipziger Volkszeitung, 01.03.2010)