In Leipzig geht die als „Klassikerspielzeit“ beworbene Inszenierungsfolge in ihre zweite Hälfte. Goethes »Clavigo« steht neben dem neuen Jelinek-Text »Stecken, Stab und Stangl« gefolgt von einer Bearbeitung nach Assi Dayans Spielfilm „Life according to Agfa« wiederum gefolgt von Schillers »Kabale«. Die „Klassikerspielzeit“ bedient Publikumsvorlieben und will sich gleichzeitig Gegenwartsstoffen nicht verschließen. Wer Korrespondenzen und Verbindungen zwischen den Sujets ausmachen will, wird sie allemal finden: In beiden Klassikern scheitert eine junge Liebe an der aromantischen Gegenwelt der Karrieren und des Standesdünkels. Dayan und Jelinek dagegen reflektieren über die Auswüchse der alltäglichen Gewalt der Zivilgesellschaft. Allen kann ein entschlossener Zugriff aufs Material bescheinigt werden. Die Wagnisse freilich sind unterschiedlich.
Kazuko Watanabe inszeniert – im ureigenen Wortsinne – den Jelinek-Text und geht im Sinne des Theatralen, das den Menschen, den Schauspieler in außergewöhnliche Situationen setzt, am weitesten. Jelinek reagiert mit ihrem Text auf einen heimtückischen Mord an vier Roma in österreichischen Oberwart. Sie be- und erschreibt in zuspitzenden Sprachfindungen die spezifische Melange aus Raffsucht, Ressentiments und brütendem Traditionalismus der Alpenrepublik. Was (Fernseh)Sportsgeist und Apathie, was Fremdenverkehr und Fremdenfeindlichkeit miteinander zu schaffen haben: Watanabe setzt es aus dem Text heraus in Szene: Sie läßt ihre vier Darsteller taumeln zwischen Ausbrüchen der Aggressivität und des Selbstmitleides. Und Akteuren und Regisseurin gelingt ein weiteres: Der hochprofessionelle Umgang mit Zuspitzung, Selbstironie und Künstlichkeit der Theatersituation. Den Intentionen Jelineks folgend, verstricken sich die perfiden Kleinbürger in Unmengen von biederer Häkelware. Netze, die sie im Verlauf der Veranstaltung verfertigen und hervorwühlen, ketten sie aneinander, vereiteln jede eigenständige Bewegung. Wenn in solchem Klima Martina Eitner-Achaempong die Lust ihrer Figur an der reinen gewalttätigen Attraktion in einer von glucksendem Lachen aufgehaltenen Schilderung über eine Amok laufende Mutter exzellent ausstellt, scheut sich die Inzenierung nicht, diese Beschreibung als komödiantischen Höhepunkt zu forcieren: Gelächter und Heiterkeit im Publikum: eine Heiterkeit, die um der Konsequenz willen nicht gescheut werden darf. Diese herausgeforderte Heiterkeit zeigt, daß deutsches Theaterpublikum immer noch sitzt, wo gelacht wird. Das zu kaschieren wäre ein Fehler.
In Armin Petras Inszenierung nach Assi Dayans Erfolgsstreifen wird das Publikum dagegen zum Problem. Er lädt es ein in Barbys Bar, Hauptschauplatz auch des israelischen Films. Der schwarze Kasten der Nebenspielstätte „Neue Szene“ faßt reichlich hundert Gäste, an runden Tischen gegenüber einem Tresen plaziert. Wichtige Szenen, die außerhalb der Bar angesiedelt sind, werden als Videosequenzen auf eine Leinwand projiziert oder als Spielszenen auf einer seitlichen, erhöhten Fläche gezeigt. Das Publikum soll hereingeholt werden in den gewalttätigen Alltag einer Gesellschaft im Kriegszustand – und bleibt doch Zuschauer. Doch anders als der Zuschauer des Films, der mit einer Kamera, die sich in Gesichtern einnistet, mit Schnitten und Standbildern, die Zäsuren setzen, an die Leinwand gebunden wird, gibt das Theater seinen Zuschauern nur, was es kann: die Totale. Entfaltet sich in Dayans Vorgabe die Wahrheit des Durchschnittlichen als Qualität, sieht sich Petras genötigt, zuzuspitzen, kräftiger zu formen, zu typisieren und verliert dabei, woran ihm doch lag, das Authentische, Alltägliche. Der lautstarke Auftritt Jörg Dathes als moslemischer Zuhälter mit Brusthaartoupet bleibt so nur sehenswertes Spektakel, sensibel gearbeitete Kammerszenen wie etwa zwischen Wilhelm Eilers Polizist Benny und Susanne Buchenbergers Mädchen Ricci entstehen dagegen nicht zufällig als ‘Theaterszenen’ auf der ‘Theaterspielfläche’ außerhalb der Bar. Das Lokal selbst aber, in das man geladen wird, überlebt seine Abbildung im Theater nur unter starken Verlusten. Zuviel wird hier vorgeführt, zuwenig entsteht aus den unheilvollen Zufällen eines stinknormalen Kneipenabends.
Wenn Petras versucht, einen sozialkritischen Streifen für die Theaterbühne zu öffnen, dann verfährt Konstanze Lauterbachs „Kabale“ – Inszenierung gegenläufig: Sich auf den Schillerschen Sinn für Verwicklung und ausufernde Intrige stützend, zaubert sie einen schnell geschnitten, augenzwinkernden Mantel- und Degenfilm. Helmut Stürmer baut dafür eine suggestive Einheitsbühne, dominiert von einer halbrunden überdimensionalen Burgmauer, die rechts kurz hinterm Portal ansetzt und sich bis weit über die Bühnenmitte ins hintere Dunkel schwingt. Im vorderen Drittel das Millersche Klavier, die Bücher, die der „Herr Major“ ins gutbürgerliche Haus geschleppt hat, aufgestapelt zu einer übermannshohen Säule. Ein paar militärisch gerichtete Stühle. Links eine Reihe opulentester Kronleuchter, die mit dem Mauerbogen im Bühnenhintergrund zusammenläuft. Der ausgewogen-assoziative Einheitsraum markiert keine sozialen Differenzen, die Kostüme verkehren sie sogar: Ferdinand und Präsident von Walter in nahezu schmuddeligem Zeug, die Bürger dagegen auf Bügelfalte und das bessere Tuch bedacht. Untersetzt von emotionalisierender Filmmusik (u.a. aus Kislowskis „Rot“ ) schieben sich die Szenen ineinander, Figuren der ‘Gegenpartei’ verbleiben dabei auf der Bühne, um in der nächsten Szene wieder zu erwachen. Lauterbach unterstreicht die Mechanik der Katastrophe, das Blinde, all das, was Schiller von Skapespeare hat. Um das tragische Moment der Verwicklung zu verstärken, betont sie in der Milford die Leidende, Gedemütigte. Schön zu beobachten, wie die Inszenierung auf breiter Front gegen das Korsett des Stücks, die historisch-konkreten Moral- und Ehrbegriffe kämpft. Dies gelingt weitestgehend. Das Publikum muß nur noch akzeptieren, daß Präsident von Walter in dieser Spiellandschaft a priori das Sagen hat. Doch Lauterbach geht noch weiter. Immer wenn „die Guten“ unter sich sind, gerät die ahistorische Spiellandschaft zu einer Spielwiese gemäßigter Heiterkeit. Die Kutsche, die Ferdinand seiner Luise zur Flucht senden will, mutiert in seiner Schilderung zum Großraumwaggon, die Laterne, die sich die entmutigte Luise zum Galgen erkoren hat, ist aus Gummi und geht mit ihr zu Boden. Die Emotionen der moralischen Lichtgestalten, schaut man aufs Ganze, taugen als Spielmaterial. Seelennöte werden in einem Halbsatz plausibel gemacht, im nächsten schon dürfen sich die beiden ‘Liebenden’ (sowie das Publikum ihnen) kein Wort glauben. Das erzeugt meistenteils Kurzweil, doch zu welchem Ende? Spannender ist da das Ehepaar Miller. Auch hier gehobener Ton, doch bleibt er sensibel vor jedem Übermaß an Selbstironie geschützt. Begeisternd wie Jochen Noch als Musikus die Silben seines häuslichen Diskurses mit der geschätzten Gattin ausschreitet, eine integere Figur, die einem zwischen dezenter Manier und Pragmatismus ans Herz wächst.
Für den heiteren Ton sind im Schauspielhaus die Kollegen zuständig – Wolfgang Engel gibt mit den Leipziger Schauspielstudenten den Querton zu Lauterbachs »Kabale« und Petras »Minna«. Sein »Clavigo« verzichtet auf jene inszenierende Distanz, die klassische Texte, oft zu Recht, als das zeigt was sie (auch) sind: Mittler eines tradierten, unzeitgemäßen Problembewußtseins. Hält sich die Inszenierung gegenüber dem Text nicht in Reserve, dann bleibt ihr die schwerere Aufgabe, die Reibung zwischen den unzeitgemäßen Fragestellungen und dem BlaBla des Zeitgeistes auszutragen. Clavigo weiß nicht was er will, ein begabter Junge, ein Objekt – daß nun gerade die Beaumarchais ihm zum Problem wird: fast ein Zufall. Engel interessiert der kapriziöse tragische Einzelfall „Beaumarchais“ und blendet aus, was zu zeigen vielleicht spannender wäre: den Einbruch der Katastrophe in den beliebigen Alltag der Aufsteiger, denen die Chefetage der Bundesbahn ebenso lieb ist wie die von VW – wenn nur das Geld stimmt. Doch Miguel Abrantes Ostrowski ringt als Carlos mit allem Atem der Welt um Clavigos Rückfall in die Sünde – und gerade in dem die Momente des Sich-Entscheidens in höchster Emotion ausgeschritten werden, die Bezirzung Clavigos sich zu einem Kampfe sondergleichen auswächst, erhöht Engel die Banalität des schlechten Alltags zum Kabinettstück karthartischer Belehrung. Da ist kaum weniger Intensität als in der geradlinigen Glaubwürdigkeit, die Benedikt Schörnig seinem Beaumarchais, dem Bruder der Betrogenen, verleiht. Hier liefern sich „Außerordentliche Menschen“ (Pressetext) ein Stelldichein mit tödlichem Ausgang. Nun soll man dem Meister nicht sein Handwerk vorhalten und dem Moralisten nicht seine Moral. Engel motiviert die Akteure zu schönen Theaterszenen. Einen inszenatorischen Kniff könnte sich die Lauterbach bei Engel abgeschaut haben. Auch im »Clavigo« verbleiben die Darsteller der jeweiligen Gegenpartei in der Szene. Jedoch nicht als „Erstarrte“ sondern als Schauende und Hörende. Der Nutzen dieser Vorah(m/n)ung bleibt jedoch fragwürdig. Beaumarchais wird so gespannten Ohrs gewahr, wie Clavigo ein zweites Mal seine Schwester verrät, um in der nächsten Szene – bestürzt – die briefliche Nachricht des Vertrauensbruches entgegenzunehmen. Daß dieser „Kniff“ die in Rede stehenden Personen sinnfällig ins Spiel einbezieht, bleibt die Ausnahme; die Konzentration der Handlung aber wird ohne sichtliche Ausbeute reduziert. Trotz dieses Handicaps bleibt unterm Strich ein sehenswerter Theaterabend – und in der Zusammenschau mit der gedanklich gegenläufigen »Kabale« auch Diskussionsstoff um Sinn und Unsinn „außerordentlicher Menschen“.
Stefan Kanis (Theater der Zeit, Mai 1997)