Mein Ehrgeiz geht auf eine bunte Kappe?

“Ich muß jetzt albern sein”, sagt Hamlet zu seinem Freund Horatio, dann drehen sich beide zum Publikum und rufen spitzbübisch “Pause”. Zu diesem Zeitpunkt hat mich schon stille Verzweiflung umfangen. Wer begreift, was hier gespielt wird? Oder besser noch: Warum? Gegeben wird Hamlet. “Klassikerspielzeit” auch im Lindenfels. Doch einfach ist die Sache nicht. Die ‘Sache’ beginnt mit einem Theater gewordenen Programmhefttext. Heiner Müller sagte einmal, man müßte die Toten ausgraben wieder und wieder… Nachzulesen als Inszenierungsmotto im Monatsplan der Schaubühne. Beim großen Schlachten in Helsingör bleibt einer übrig: Horatio, Hamlets Freund. Dieser greift nach Heiner Müllers schwarzen Kleidern und läßt die Schauspieler die blutigen Vorgänge um Dänemarks Geschicke, also »Hamlet«, nachspielen. Müller ist nicht leicht zu verstehen und “Schauspieler sind dumm”, also gibt sich Horatio Mühe und übersetzt die monadische Geschichtsphilosophie fürs Volk: “Laßt uns die Toten ausgraben und befragen, denn sie könnten uns einiges zu sagen haben.” Damit dieser Ansatz der analytischen Nacharbeit des Publikums nicht verlorengeht, ist er im Programmheft festgehalten. Und Nachlesen lohnt sich, weil die Inszenierung Wort hält: Sie schiebt sich durch den Text im Gestus des “ja und dann kam doch noch der…”.

Heiner Müller sagte vieles, zum Beispiel auch: Der Text ist klüger als sein Autor. Die Qualität der Dichtung – und Shakespeare und Müller sind Dichter – ist ihre Dunkelheit; was sie verbirgt, nicht was sie mitteilt, ist ihr Reiz, ist ihre Kunst. Darauf kann man anspielen, hervorzerren läßt es sich nicht.

Zum Beispiel Rosenkranz und Güldenstern. Die sind bei Shakespeare ‘gut drauf’, wollen Hamlets dunklen Sinn erheitern. Ronny Marzillier und Peter Atanassow müssen zur Illustration dieses Zustandes in peinlicher “It’s cool man, yeh” – Manier über die Bühne eiern, da wird es nicht nur Hamlet anders. Gestische Dopplung und Be-Körperung simpler Textaussagen nicht nur hier. Erinnern ist manchmal Sprechen, infolgedessen wird in der Schaubühne eine Unmenge Text bewältigt – insbesondere bei Michael Kleinerts König Claudius und David Jekers Horatio ist von mehr als Bewältigung auch kaum die Rede. Nun sind ja gerade die Shakespearschen Konstellationen die menschlichen, die einfachen. Sie sind die “Spiegel durch die Zeiten” (Müller). Warum wurde nicht gespielt, Theater oder Leben oder beides.

Worte, Worte, Worte – Hamlet weiß, warum er sich vor ihnen ekelt. Im Gegensatz zu Königin Gertrud. Sie fordert von Polonius: “Mehr Inhalt, weniger Kunst” – das Publikum aber will ja nicht informiert werden, darf also wohl das Gegenteil erwarten. Daß es für die ganze Konstruktion unlängst eine Vorlage gab, daß sich vor kurzem auch Peter Brook in Paris an Hamlet erinnert hat und damit in Berlin zu Gast war, mag in Leipzig vielleicht nicht allzu vielen bekannt sein. Regisseur René Reinhardt borgt sich den Einfall und transferiert ihn ins Deutsche Sprechtheater. Entschuldigung, aber so liegen die Dinge. Auch in Leipzig mischen sich die Spielweisen und Stilmittel, auch in Leipzigs gibt es eine besondere Spielfläche, auf der gearbeitet wird, auch in Leipzig sitzen die gerade nicht beschäftigten Schauspieler am Rand und beobachten ihre Kollegen. Aber wo in Paris spielerisch-weise um Hamlet und das Theater recherchiert wird, die Eitelkeit der Mimen geschickt sich selbst präsentiert und parodiert, das “Seht her, wie ich das mache” einen Moment lang unangenehm überrascht, um sich sofort gelassen zu relativieren, zeigt sich in Klein-Paris ein eitler Anspruch, der ins Große greift und dem zumeist statt Witz nur Albernheit und statt Intensität nur Lautstärke gelingt. Die Königin Claudia Loerdings ist ein solches Wesen. Dem Schrei über Ophelias Tod folgt wiederum ein Sturz von Text; überflüssig, wäre Gemeintes, Erlittenes gespielt worden. .

Die Reihung der Stilmittel wird zum Potpourri, wenn die Schauspielerszene als expressionistischer Stummfilm daherkommt, der Wahnsinn Ophelias sich in Rocksongs kleidet. Daß der Film einfallsreich gedreht ist und Daniell Schneider als Ophelia mit der King’s Men-Combo gut musiziert, macht die ‘Sache’ insgesamt kaum besser. Wo ist die Notwendigkeit, die das unangenehme Gefühl der “Beliebigkeit” vermiede?

Der Abend hinterläßt mich in kalter Ratlosigkeit gegenüber einem leblosen Gebilde. Es kennt freilich eine Ausnahme. Die hat weißes Haar, heißt Heinz Hellmich und gibt, spielt, macht, ist Polonius. Hellmich führt keine Gefühle vor, sondern hat alle Hände und Gesichter voll mit seinem Handeln zu tun. Ein wunderbarer Schauspieler, der lebt und doch weiß, daß er auf der Bühne steht. Daß das Publikum rätselt, ob seine freundliche Naivität gespielt ist oder ihm schnurgerade aus dem Herzen fließt, macht den Mann nur spannender. Kein Zufall, daß er Brook ähnlich sieht.

Stefan Kanis (KREUZER, Juni 1997)

Schaubühne im Lindenfels | www.schaubuehne.com

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