Reclam Leipzig verlegt 57 Schlagerinterpretationen
Der deutsche Schlager prosperiert – wenn er seine 20 Jahre auf dem Buckel hat. Schlagerparties allerorten, es trällert in TV und Radio, ob öffentlich-rechtlich oder privat. Die Neunziger sind nicht nur die Jahre des formalen, sondern auch die des emotionalen Recyclings. Die Schlagereuphorie der älteren Jugend ist nichts anderes als das Eingeständnis des ersten Verlustes, die Absage an die Möglichkeit der großen Liebe, an die weiche Eroberung der Welt. Mit ihrer Begeisterung für Udo Jürgens & Co. finden sich die Jungen das erste Mal als Alte, als ihre eigenen Eltern wieder. Auch mit 25 hat man schon reichlich nichtgelebtes Leben angehäuft, das kompensiert sein will.
Reclam Leipzig widmet diesem Phänomen ein “Sachbuch” und schreibt wohl an allen Zielgruppen vorbei. 57 “verständige Interpretationen” publizieren die Herausgeber Max & Moritz. Eine bunte Mischung von Autoren, vorwiegend mit journalistischem und geisteswissenschaftlichem Broterwerb befaßt, analysieren die Hits: Von den “Capri-Fischern” über “Siebzehn Jahr, blondes Haar” bis zu den “Blauen Augen”. Meistenteils erfährt man aus den drei bis vierseitigen Abhandlungen, auf welche spezifische Weise der jeweilige Schlager an der Spiegelung der gesellschaftlichen Wirklichkeit vorbeigreift. Die Besprechung von Marianne Rosenbergs “Er gehört zu mir” widmet sich breit der Darstellung eines feministischen Gruppenausflugs im Jahre ’75 in dessen Verlauf die Autorin den Schlager erstmals zu Gehör bekam. Und das auf die Zeile “Er gehört zu mir” der Kehrvers “wie der Arsch zum Klopapier” gereimt wird – na ja, das wissen wir.
Den Sammelband dominieren nicht wirklich kritisch gemeinte, in verhaltener Distanz zum Gegenstand stehende Abhandlungen, die dem Glanz ihrer Vorbilder nicht gerecht werden. Sie kratzen, aber packen nicht. Zu wenig argumentative Brillanz, zuviel lineare Textanalyse oder kulturgeschichtliches Proseminar. Das Sachbuch also nichts für Fans oder Interessierte, die im Kontext des konkreten Schlagers, verdichtetes biographisches Material, Hintergründe oder Klatsch über den jeweiligen Star zu erfahren suchen. Die Autoren sind keine intimen Kenner ihres Gegenstandes. Den Nimbus der Hits literarisch anspruchsvoll zu enthüllen und / oder ironisch zu dekonstruieren, gelingt nur wenigen. Elmar Kraushaars Erörterung von Minas abgründigem “Heißem Sand” ist eine der Ausnahmen. Hier wird der Band vom unentschlossen Sachbuch zum zeitgenössisch-geschliffenen Lesebuch für Freunde, daß er eigentlich sein will. Und die lapidare Feststellung im Vorwort, es seien zu wenige Ost-Schlager besprochen, ersetzt nicht die dadurch entstandene Lücke.
Stefan Kanis (KREUZER, Juli 1997)