Festival im Off

MANöVER und euro-scene im Herbst 1995

Das Konzept der MANöVER-Festivals scheut Weltläufigkeit um ihrer selbst Willen wie das gebrannte Kind das Feuer. Es begibt sich auf die Suche nach Inszenierungen, die auch und gerade in hoher Künstlichkeit, von der Präsenz des Außerkünstlerischen inspiriert, spiritualisiert, auch vergewaltigt werden. Als Qualitätsmaßstab wird die Bewältigung dieses Widerspruchs in der jeweiligen Inszenierung erkennbar. Damit bezieht das MANöVER in der Diskussion um die Spezifik des Freien Theaters einen streitbaren, aber einen erkennbaren Standpunkt. Das Festival wechselt jährlich zwischen deutschen Off-Theater-Produktionen und einer konzeptuell focusierten Umschau im Ausland. Diese Konturierung ist noch jung, verspricht allerdings fruchtbarer zu werden als der Gemischtwarenladen des großen, ungleichen Leipziger Bruders euro-scene. Das 95er Festival unternahm den Versuch, aus der reichen Szene Ljubljanas, Hauptstadt des als Nationalstaat jungen Sloweniens, einen repräsentativen Querschnitt vorzustellen. Weiterlesen

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Belanglos und/oder sexistisch

Volksbühne am Rosa Luxemburg Platz: „Die Stadt der Frauen“ von Federico Fellini (Regie Frank Castorf, Ausstattung Bert Neumann)

Das Portal der Volksbühne zeigt die rot be­spannten Wände eines Kinos. Hinter dem sam­tenen Bühnenvorhang müßte die Leinwand lie­gen. Auf der Vorbühne finden sich auch ein paar Sitzreihen, versenkt um einen knappen Meter. Klappsitze. Ein Kino eben. Nur liegen sie quer zu Publikum und Bühne. Wer sich auf diesen Sesseln niederläßt, schaut in die Wand­bespannung. Eine prinzipielle Verkanntung bestimmt von vornherein das Geschehen.

Eine Wasserstoffblonde stöckelt herein und nimmt ohne weitere Überlegung auf einem Ses­sel der ersten Reihe Platz. Ein paar Sekunden vergehen. Marcello Snaporaz alias Henry Hüb­chen verirrt sich in dieselbe Vorstellung. Er trägt natürlich Sonnenbrille – das macht, daß er auf seiner Eintrittskarte Reihe und Platznum­mer nicht erkennen kann. Er tauscht die dun­klen Gläser gegen gewöhnliche aus. Ein zweiter Versuch der Entzifferung – erfolglos, die Augen sind doch schon zu schlecht. Er angelt eine Le­sebrille aus dem Sakko, bugsiert sie auf die Nase. Nach umfänglich-umständlichem Suchen ge­langt er vor dem Sitz der Wasserstoffblonden an. Sie sitzt auf seinem Platz! Stille Verzweif­lung und schließlich die Bitte; doch seinen Ses­sel freizugeben. Die Dame blickt entrüstet in den leeren Saal und stöckelt nach hinten. Diese Eingangsetüde bildet den Höhepunkt an dra­matischer Spannung innerhalb der Inszenie­rung. Nun folgen, man möchte es nicht glau­ben, zweieinhalb Stunden lang spannungslose Tableaus. Um keine Mißverständnisse über den Begriff der Spannung zuzulassen: Span­nung wird hier von Castorf nicht absichtsvoll derangiert oder ironisch umgangen, sondern schlichtweg ersetzt durch die mäßig schiefe Ebene eines einförmigen Verlaufs.

Das Drehbuch Fellinis weist vier zentrale Schauplätze aus. Den Kongreß der Feministin­nen, die Villa Katazones, die Traumrutsche und schließlich das feministische Theater. In einer Kette assoziativer Sequenzen arbeitet sich Fellinis Film durch diese Schauplätze; eine Traumkonstruktion, wie die Rahmenhand­lung deutlich macht. Dem Problem des Träu­menden jedoch, daß für ihn und nur für ihn die irrwitzigen Konstellationen des Traumes Reali­tätscharakter besitzen, versucht schon Fellini durch den Rückgriff auf überindividuelle Äs­thetisierung und Typisierung gegenzusteuern. Castorf macht sich um die Anbindung seiner Traumbilder ans Publikum keine Sorgen, er läßt die Dinge, gewissermaßen traumähnlich, so sein, wie sie sein wollen. Nur leider schläft das Publikum noch nicht. Es spannt auf dramati­sche Situationen oder deren bewußte Negation. Nichts dergleichen passiert. Auf der leicht schiefen Ebene des Verlaufs rutscht eine Gege­benheit in die nächste. Freilich ziert dieses ge­mächliche Voran die eine oder andere Schikane als Gelegenheit für die eine oder andere insze­natorische Arabeske. Hübchen reitet auf einem Pferd ein, das deutlich zu Erkennen gibt, daß es sexuelle Absichten hegt. Zum Beispiel.

So blen­det nach dem Vorspiel im leeren Kino die Insze­nierung hinüber zu dem, was bei Fellini als Kongreß der Feministinnen den ersten zentra­len Schauplatz der Handlung bildet. Dazu öff­net sich in der Volksbühne der Bühnenvor­hang, um den Blick auf einen wenige Meter dahinter liegenden zweiten, glitzernden freizuge­ben. Die Fronde der versammelten Feministinnen spielen Sophie Rois, Astrid Meyerfeldt, Kathrin Angerer. Nun wird inszenierungsprak­tisch eingeführt, was den Rest des Abends prägt: Die Ausdruckskraft der Darstellerinnen soll den aus dem Filmmanuskript extrahierten Textsequenzen Präsenz verleihen, wobei sie weder Gelegenheit haben, eine Situation, aus der sie heraus ihre Texte sprechen, zu erspielen, noch sie zu parodieren. Es gibt keine Situation, und Castorf will auch keine schaffen. Die drei Frauen durchzirkeln die Sparten des femininen Denkens von Penetrationsverweigerung bis Biokost – die Galerie ist selbstverständlich dankbar für alles, woraus man einen Witz ma­chen kann. Wenn sie streichholzzündelnd mit dem „männlichen” Feuerspielen, kommt Hüb­chen sofort mit dem Naßlöscher und verhin­dert schlimmeres.

Da sich die Dinge in dieser Weise fortsetzen, allmählich jedoch die belanglosen aber doch zumindest heiteren Brechun­gen der weiblichen Entäußerungen ausbleiben, entsteht in der Entwicklung des Abends ein problematischer, geistloser Effekt: Film und Drehbuch Fellinis beschreiten einen schmalen Grat. In der Darstellung seiner Obsessionen breitet der Italiener ein Panorama und ein Ver­hältnis zur Weiblichkeit aus, in dem die tiefe Differenz zum konsequenten Feminismus einen Ton unter anderen bildet. Ohne Frage ist der Tonfall, in dem Fellini die Eigenheiten und Abwehrreaktionen der Frauen präsentiert, gele­gentlich ironisch, nie zynisch. Castorfs Frauen dagegen sind durchweg Hascherln, speziell die Feministinnen schöne Frauen in freizügigen Textilien, die absonderliche Wünsche äußern. „Selbstverständlich” ist auch das restliche weib­liche Personal in die vielfältigsten schrägen Umhüllungen gekleidet. Enge Blusen, die von künstlichen Brüsten gesprengt zu werden dro­hen, „Gib mir Tiernamen“-Kostüme usw. usf. Aufgeschlossen, alle diese Zeichen als Kunstmittel deuten, nicht als Denunziation verste­hen zu wollen, schaut man in die Szene. Je län­ger man hineinschaut, Zeit hat man wie immer genügend, wird man gewahr, wie sich jeder doppelte Boden, jedes künstlerische Ansinnen verflüchtigt, ja gar nicht erst einstellen will. Die Karikaturen von Frauen sind mit jeder Bühnen­minute zunehmend nichts anderes mehr als Ka­rikaturen von Frauen. Das platziert im gesamten Abend einen tendenziösen Charakter, den nicht nur Feministinnen als langweilend, wenn nicht sexistisch erkennen dürften.

Es wird keine konzeptionelle Absicht deutlich, in der diese ge­nüßlich-geistlose Zurschaustellung eines weib­lichen „Macken-Programms” einen anderen Sinn bekäme, als zu sagen: Frauen haben eben Macken. Dieser Eindruck verfestigt sich auch aus einem weiteren simplen Grunde. Die Män­ner kommen im Bilderreigen beileibe nicht so schlecht weg wie die Frauen. Immer noch bes­ser für sie, überhaupt nicht wegzukommen, wie Günter Zschäckel als faschistoider Macho Ka­tazone. Seine Figur ist reduziert auf etwas stam­melndes Geplapper. Wer Fellinis Film nicht kennt, dem wird ob der Konturenlosigkeit der Bühnenfigur jede Stellungnahme zu diesem „etwas“ unmöglich. Sie ist im Vergleich zu den Frauen selbst zu blaß, um sich zu denunzieren. In den Szenen in der Villa Katazone gipfelt – treffender: kommt zum völligen Erliegen – was über der gesamten Inszenierung waltet: eine Strategie des ersten Einfalls, gepaart mit einer simplen Mechanik des besinnungslosen (Ge­dacht)-Gesagt-Getan. Hier ist es allenfalls Henry Hübchen, dem es gelingt, zwischen dem aktuellen Augenblick und dem nun einmal notwendigen Weitergang des Geschehens eine Grimasse der seelischen Nötigung, die einen Zusammenhang ahnen läßt, eine psychologi­sche Motivation wenigstens parodiert, einzuschieben. Keine Frage, daß er dies exzellent und mit höchstem körperlichen Einsatz tut. Dafür gilt ihm aller Dank.

Diese Stellprobenatmos­phäre wird durch Darstellungswillen weiter an­gereichert, wenn Cornelia Schmaus als Snapo­raz enervierte Gattin Elena die Szene betritt. Sie läßt im Zusammenspiel mit Hübchen ahnen, was unter anderem eine Möglichkeit für den Abend hätte sein können: Die Umwertung und „Realisierung” der Fellinischen Blumigkeit in katastrophisch zugespitzten Einzelszenen. Und zwar auf eine Weise, daß es das Publikum schauert vor der Differenz der Geschlechter oder es, besser noch, Lachen macht. Da dies lei­der nicht eintritt, spielt Hübchen ohne Grund und Echo eine Belästigung, eine Gefahr, die es für ihn in der Stadt der Frauen der Volksbühne schlichtweg nicht gibt. Dank trotzdem, daß er sich Mühe gegeben hat; ohne ihn wäre der Abend eine Katastrophe.

Stefan Kanis (Theater der Zeit 11/1995)

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Zwischen Bühne und Schreibtisch

Der Gründungsprofessor des Studienganges Dramatrugie an der HfMT Leipzig

Peter Reichel, Jahrgang ’39, kämpft um einen Berufsstand. Die erste Runde hat er gerade gewonnen: In diesem Monat beginnt an der Hochschule für Musik und Theater die Ausbildung in einer sehr alten Kunst: Dramaturgie. Der einzige Studiengang dieser Art in Deutschland. Was ein Dramaturg denn eigentlich zu tun habe, darüber könnte der versierte Praktiker mehr als tausend Sätze sagen. Ob ein Text auf die Bühne oder ein Szenarium auf die Leinwand kommen sollte, ist zwar eine wichtige aber beileibe nicht die einzige Arbeitsaufgabe. Dramaturgen arbeiten im Verborgenen. Ihr Tun wird zumeist nur bemerkt, wenn es fehlschlägt. Weiterlesen

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Sei einfach!

Theater „Struktur fokal“ zeigt das Märchenspiel „Garnichtwild“ im Werk II

Garnichtwild ist eine possierliche Geschichte und in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Da darf man sich erstens über einen Text freuen, der eine simple Geschichte erzählt. Zu simpel um vordergründig pädagogische Ambitionen zu hegen. Mädchen Jule träumt sich auf der Frühlingswiese in ihre blumige Welt, der Novize Arthur betritt das Areal, eine kleine feine Verliebtheit keimt auf, aber Arthur gehört ja ins Kloster. Das stiftet Probleme, die jedoch von Hexe Garnichtwild im Besenumdrehen gelöst werden. Julchens Opa unterfüttert die Geschichte mit ein wenig sozialem Hintergrund, knurrt hier und mäkelt dort, ohne jedoch den lieblichen Lauf der Dinge ernsthaft zu gefährden. Weiterlesen

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Remake einer Erinnerung

Frank Castorf inszeniert die „Nibelungen“

Worms am Rhein. Die große Halle ist eher ein Unterstand. Notlampen, Eisenträger, eifelturmvernietet. Drinnen die Burgunden. Man posiert; will beginnen zu raufen – „S‘ ist heilger Tag” König Gunther hebt beschwichtigend die Hände. Keine Kampfesmätzchen heute unter den Burgunden. Mißmutig trollen sich die Recken wieder auseinander. Langeweile zu Worms. Da kommt Siegfried gerade recht. Er ist ein synthetischer Held, zwiefach, ein Schönling, ein Bübchen: Seine Riesenkräfte, seine Unverletzlichkeit haben sich nochmals abgespalten und materialisiert – in sieben Amazonen, Kolleginnen des Kresnikschen Tanztheaters. Diese wiederum pilgern nach Sigefrieds Tod als ungebundene Energie durch den Abend, variabel und frei adaptierbar. Die Amazonen bilden als sperrigstes Moment wohl die zentrale interpretative Herausforderung der Inszenierung. Weiterlesen

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Dampferaufgang 6.13 Uhr

Neues Tafeltheater von Wolfgang Krause Zwieback und Christian Sade

Kein Zweifel, daß es so kommen mußte. Krause Zwieback mag die Professionen in denen es hoch her geht, die Flieger in den Lüften und die Steuermänner auf den Wellenbergen. Und zuviel wäre es trotzdem, zu sagen, man hätte es erwartet. Nun ist es passiert. Der Dampfer ist untergegangen. Senkrecht in See gestochen, Kurs aufs offene Malheur. Weiterlesen

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Im Jenseits des Theaters

Teatro Mari zeigt „Hopi“ im Werk II

Hopi sind Indianer. In diesem schlichten Satz erschöpfen sich meine ethnologischen Kenntnisse über ein Volk, dem Uwe Hilbig, Altvorderer des „Front“-Theaters, ein Stück gewidmet hat. „Hopi“ will nicht auf Aufklärung hinaus, wie ich noch bemerke. Formal präsentiert sich das Stück als dreiteiliger Abend. Er führt uns zu einer kreisrunden, sandigen Spielfläche. Über ihr wölbt sich ein stählerner Himmel. Im ersten Zeitsegment nimmt der Zuschauer an einer Art anthropolgischer Demonstration teil, die zu deuten ich (mir) versage. Dörte Lucht, neben Hilbig zweite Akteurin, gliedert das Rund mittels rotem Sand in Viertel. Danach läßt sie mit einem intensiveren Farbton eine Spirale auf das Zentrum zulaufen. Sie und Hilbig in Kostümen, Maske und Körperschminke offensichtlich/möglicherweise Hopi. Guturale Laute als Synchronisationsmittel. Abschreiten der Viertelkreise. Schellen, Medidative Klänge aus der Konserve. Zwischen zyklischer Zeit und Territorialmarkierung eröffnen sich breiteste Assoziationsmöglichkeiten. Abschließend Entdeckung/Beschwörung des Feuers, Angst und Wärme. Weiterlesen

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Erzählen Versuchen Erleben

Tom Wolter und die Freien Komödianten

Es ist wahrlich an der Zeit, an dieser Stelle aufmerksam zu machen auf die „Freien Komödianten“ – wenn es denn dessen noch bedarf. Was sich mit dem „Schuster“, einer Verlustbeschreibung des Übergangs vom Handwerkeln zur Serienproduktion, als Einblick gastspielhalber in die Off-Szene Halles darzubieten schien, war alles andere: war der Auftakt stetiger kultureller Kontakte zwischen Saalestädtchen und Pleißemetropole. Die Dinge haben sich derweil rasant entwickelt: Die Freien Komödianten schicken sich an, alles quantitativ Dagewesene an Premieren pro Spielzeit in den Schatten zustellen. Im Oktober des letzten Jahres trat man mit dem Handwerker-Stück hervor, der erste Donnerstag des Wonnemonats Mai wird uns in der naTo „Die Freude“ bescheren. Dies wäre die fünfte Arbeit. Weiterlesen

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Zwischen Frühstück und Gänsebraten

Weihnachten taugt im Leipziger Theater für alles. Biblischen Stoff gibt’s streng vom Blatt bis hin zur Performance

Zweimal im Jahr, das ist offenkundig, kommt das Theater Bür­gerinteressen wirklich nach: Im Sommer dem erotisch aufgelade­nen Unterhaltungsbedürfnis (Schlagwortkette Wein-Weib-Gesang) mit den entsprechenden Freiluftinszenierungen. Vor Weihnachten dann dem nach Läuterung der Gelüste vom Sommer. Die Freitzeit­gesellschaft ist moralischer Zurüstung offen und die braven Mimen suchen – gewissermaßen zwischen Frühstück und Gänsebra­ten – anzudocken an der festlich gestimmten Bürgerseele. Die einzige dem Anlaß angemessene Darbietung jedoch, die saubere Durchführung des Krippenspiels, birgt mehrere Unverträglichkeiten. Weiterlesen

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Jesus is bleeding

„Jauchzet, frohlocket!“ – ein Tanztheaterabend am Schauspielhaus Leipzig

Das Publikum nimmt Platz im Hintergrund einer Kirche. Wie es sich für einen feineren Spielraum Leipziger Prägung gehört, wird dieser Ort über ein zentrales Element markiert, das neben der naheliegenden auch assoziativeren Verortung zuläßt. Die Säulen, die in den Schnürboden ragen, zeigen unverputzte Ziegel. Sie mögen neben Kirchenarchitektur auch für Wartesaal und Nachkriegsarchitektur gelten. Weiterlesen

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Theater der Grausamkeit

Martin Nimz inszeniert Strindbergs „Rausch“ am Schauspiel Chemnitz

Ein roter Samtvorhang umschließt die geneigte Spielfläche. Schwarz-weiß kariert. Ein Schachbrett. Statt dem Gnom aus Twin Peaks schaut ein weißer Läufer mal herein. Nichts los. Da geht er mal wieder.

Petra Förster spricht – als Bauer? – einen Text über die Schlechtigkeit des Menschen. Im Programmheft heißt sie August. Bei Strindberg war sie vorerst nicht vorgesehen. Abwarten. Weiterlesen

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Hase Hase

im Schauspielhaus Chemnitz

In Coline Serreaus feinem kleinen Stück kommen die Monologe wie arglistige Wesen über die Menschen. Weder Mutter Hase noch der Papa mögen sie eigentlich, die ewigen Reden. Vor allem solches Geschwafel nicht, das das Handeln ersetzt. Außerdem läßt ihnen das Leben keine Zeit. Zumindest der Mama nicht, der Mutter Hase. Nur ab und zu muß alles mal raus, denn dann „platzt einem der Kopf mit einem großen Kürbis drin“. Und wenn er raus ist, der Monolog-Kürbis, geht das Leben weiter. Dann muß man schauen, was die anderen zu essen gemacht haben, inzwischen. Weiterlesen

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Handwerker wider Willen

Hamlet im Schauspielhaus Chemnitz

Alles kommt anders, wenn man denkt. Das ist des Hamlets simpelste Wahrheit. Der Glaube, richtige, endgültige Entscheidungen treffen zu können, bleibt Hoffnung und Privileg der Einfältigen. Der Dänenprinz ist aber ein schlauer Bursche. Also tut er nichts. Vielen Hamlet-Inszenierungen liegt genau das am Herzen – tiefsinnig zu zeigen, wie und warum nichts passiert. Damit räumt Chemnitz gründlich auf. Regisseur Gert Jurgons entdeckt die unendlich vielen Auf- und Abgänge, die Korona aus Dienern, Vertrauten, Ministern, Spitzeln, Freunden und Wachen. Fortlaufend wird hier vorbereitet und ersonnen, besucht und intrigiert. Und alle Figuren haben was zu sagen. Die Inszenierung schlägt einen Ton an, als gälte es dem Publikum eine interessante, aber doch unbekannte Story zu erzählen. An keiner Stelle zelebrieren die Darsteller genüßlich ihren Text. Sebastian Kowski als Hamlets Onkel Claudius erreicht teilweise olympisches Niveau im Sprechtempo. So folgt die Übersetzung auch nur in Ansätzen den Poesiealbenversen der deutschen Romantiker. Über weite Strecken Prosa. Ins Versmaß wird gewechselt, wenn’s theatralisch klingen soll. Weiterlesen

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Ein Reigen der Lust

Der Soldat geht zur Hure. Das Stubenmädchen treibts mit dem Soldaten. Der junge Herr verführt das Stubenmädchen. Am Ende landet wieder jemand bei der Hure. Der Reigen der Lust – unser täglich Brot. Weiterlesen

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Theaterkunst? Ein Mißverständnis!

„Blinde Angst“ in der naTo

Zuallererst räumt die neueste Produktion der MANTELBANDE – „Blinde Angst“ – mit einigen Erwartungen auf, die an sie geknüpft wurden. Allein dafür gebührte ihr Dank. Attestierte man dem bejubelten Vorläufer kurzerhand Begriffe wie Ehrlichkeit und einen schwülen Hauch jugendlicher Emanzipation, streift die Gruppe dies alles nun gründlich ab. Weiterlesen

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Mythos für Arme

»Die Troerinnen des Euripides« im Schauspiel Leipzig

Auf der Bühne die stählerne Silhouette eines Schiffes, davor das besiegte Troja. Der Krieg ist vorüber, aber des Odysseus‘ Irrfahrt hat noch nicht begonnen, ebensowenig wie das Schlachten in Agamemnons Burg. Eine Leerstelle.

Die Troerinnen, die Frauen der Besiegten, sollen von den Siegern, den Griechen,  in Besitz genommen und verschleppt werden. Hektors Sohn, ein Säugling, wird getötet.  Eine Atempause zwischen den großen Epen des Mythos, ein Stillstand, eine Möglichkeit des Eingedenkens, der Wahl. Ein Stück ohne Handlung? – Sartres Protest wäre sicher. Für ihn handelt der Mensch nicht wo er seinem Charakter oder den Zwängen der Verhältnisse folgt. Er handelt, wo er sich exemplarisch neu entwirft. Wählen zwischen Tod und Existenz. Die Troerinnen. Weiterlesen

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Politisches (Dorf)Theater

„Unser Dorf soll schöner werden“ auf der Probebühne des Chemnitzer Schauspielhauses

Theater ist Politik! Ein fundamentaler Irrtum. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Politik ist Theater. Der Bundestag – der größte Komödiantenstadl. Die versprochenen „blühenden Landschaften“ – Prototyp jedes Kulissenschwindels. Vom Wahlkampf ganz zu schweigen. Und das Stadttheater mittendrin. Und immer schön provokant. Kein Klischee ist zu billig, kein Thema zu heiß. So heiß, daß … außer heißer Luft meistens nichts bleibt. Das Kabarettstück „Heimat die wir meinen“, schon jetzt der Flop der Saison, beweist dies gründlich.

Klaus Schleiff, in jenes ‚Rührstück‘ als Darsteller des spät-stalinistischen Opas verhängnisvoll verstrickt, ist der Bütt entronnen, konnte sein seelisches und künstlerisches Gleichgewicht wiederherstellen. Als therapeutische Maßnahme hat er unter Aufsicht Bernd-Michael Baiers den Monolog „Unser Dorf soll schöner werden“ einstudiert. Das Leben des Hubert Fängewisch. Wieder ein einfacher Mann im Ruhestand, aber: Made in West-Germany. Weiterlesen

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Stirn, vergiß nun alles Denken

André Hellers „Sein und Schein“ am Wiener Burgtheater uraufgeführt

Der Meister tritt vor den Vorhang der Burg. Nein, niemand sei erkrankt. Heller erzählt von einem Theatererlebnis in Indien. Dort habe er eine „magische Verbindung“ zwischen Akteuren und Zuschauern erlebt. Ähnliches wünsche er sich an diesem Ort. Schwer genug sei es gerade hier, meint er.

Und wie um seine Worte zu bestätigen, teilt ein riesiger Kaspar den Vorhang und nimmt das Logenpublikum an die Hand wie die Zeltgäste beim Jahrmarktsspektakel. Erst als die Zuschauer laut genug ihre Anwesenheit herausschreien, öffnet sich der Vorhang über einem bizarren Bilderbogen. Weiterlesen

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Brecht auf dem Teller

„Die Rundköpfe und die Spitzköpfe“ erlebten ihre österreichische Erstaufführung

Brecht ist auf den Bühnen Österreichs nicht heimischer als in Deutschland. Seine Stücke nicht, vielleicht aber Spuren sei­ner Methode – des ‚eingreifenden Theaters‘. Im Wiener „Macbeth“ ist ebenso Platz für aktuellpolitische Repliken wie in Hellers neuestem Theaterzauber „Sein und Schein“. Leben und Kunst stehen ein wenig näher beisammen. Das Publikum gou­tiert es allemal. Beliebtestes Objekt von Spottversen und Couplets ist derzeit Herr Haider. Haider? – ist Frontmann ei­ner 15-Prozent-Partei, die endlich die Verursacher der wirt­schaftlichen Stagnation Österreichs ausgemacht hat: die Aus­länder. Und eben diesen Gedanken trachtet Haider per Volksbe­gehren zu einem völkischen zu machen. Darüber spricht in Österreich alles. So auch die Aufführung der Brecht-Parabel am Wiener Akademietheater.  Handelt sie doch vom ökonomischen Hintergrund rassistischer Ausgrenzungen. Wen wundert’s da, daß Herr Haider einsam das Programmheft ziert. Weiterlesen

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Hades auf Probe

Frank Castorf inszenierte Euripides „Alkestis“ für Wien und Berlin

Eigentlich habe er „Tosca“ machen wollen, die Wiener hätten sich aber den Euripides gewünscht, meinte Frank Castorf vorab. Und nun haben sie ihn, euripideischer als gewünscht, mag man hinzufügen.

Admet, Thessaliens König, soll zum Hades abberufen werden. Er freilich will nicht sterben. Apollon, von Zeus zu des Königs Handlanger degradiert, erwirkt bei Thanatos, dem Hüter des Totenreiches, daß sich dieser auch mit einem Ersatz zufrie­dengäbe. Der Vater des Admet, ob seines natürlichen Alters zuförderst um diesen kleinen Liebesdienst gebeten, verweigert sich. Alkestis aber, des Admets Gattin, geht freiwillig und ohne Zwang für ihn hinab. Schließlich erscheint Herakles, Halbgott und Wundertäter, und trotzt sie als Gegenleistung für die bei Admet genossene Gastfreundschaft dem Totenreiche wieder ab.

So der Mythos in Euripides‘ Handschrift. Verübelte man schon dem griechischen Autor die Auflösung der tragischen Notwendigkeit – der Opfertod verliert durch seine heiter-bei­läufige Annullierung jede symbolische Kraft (und mit ihm das gesamte Stück) – so setzt Castorfs Interpretation just hier an und fort: Ach, einfach mal tot sein! Oder lieber doch nicht? Weiterlesen

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Frank & Stein

Stellen Sie sich doch einmal vor, „Frankenstein“ sei ein lustiger Film! Unmöglich? Dann sollten Sie ihrer Phantasie auf die Sprünge helfen lassen. Die zwei taufrischen Neuzugänge des Chemnitzer Schauspiels Marc Hetterle und Ralph Sählbrandt geben sich für Sie wirklich alle Mühe. Sie sind die beiden Drehbuchautoren Frank and Stein im gleichnamigen exzellenten Boulevard-Bestseller von Ken Campbell. Als solche kennen sie natürlich die Handlung ihres eigenen Streifens bis ins Detail – und, als der Film, den sie eigentlich nur vorführen wollen, bereits im Vorspann reißt – müssen sie selbst einspringen. Weiterlesen

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Nur ein Junge von nebenan

„Roberto Zucco” von Bernard-Marie Koltes am Staatsschauspiel Dresden

Roberto Zucco ist ein Mörder. Er tötet vier Menschen, zuerst seine Eltern. Zucco ist weder wahnsinnig noch tötet er aus Langeweile. Zucco ist anders – er ist ein Held. Die Gesetze einer scheindemokratischen Ethik überschreitet er wie zufällig; er bemerkt sie nicht einmal. Wie aus einer tiefen, längst verschüttet geglaubten Erdschicht aufsteigend, verströmt Zucco einen dunklen Lebensstrom, eine archaische Unbedarftheit. Erschreckend und schön.

Wie auch die anderen Helden der Stücke von Koltes ist er ein Enkel der Hesseschen Demians und Hallers. Doch wo der deutsche Erzähler humanistisch-elitäre Logen der gei­stigen Kultur im Angesicht eines nie­dergehenden Europas konzipiert, erklären die Figuren des französi­schen Dramatikers den stillschwei­genden Gesetzen der Bürgerlichkeit den Krieg. Als Ausgestoßene treten sie urplötzlich ins Rampenlicht und fordern das, was ihnen gemäß erscheint: Sühne. Das bürgerliche Europa wird sich dem Ansturm der „Unterprivilegierten aller Länder” erwehren müssen. Das kostet Blut, „und Blut ist das einzige auf der Welt, was nicht unbemerkt durchgeht.” Auch deshalb tötet Zucco. Weiterlesen

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Die Aura der Zivilisation

In Wien zeigt Peter Greenaway die 100 wichtigsten Dinge der Welt

Die Wiener Hofburg, ehrwürdiges Zentrum königlich-kaiserlicher Tradition, überrascht den Besucher derzeit mit Ungewöhnlichem. Nur wenige Schritte in den Prunkbau hinein – und man trifft auf ein nacktes Menschen-Paar: Adam und Eva, aus Fleisch und Blut. In einem Glaskasten sitzen die beiden, hin und wieder ein paar Worte flüsternd – wie sie Gott geschaffen hat. Geniert schweift der Blick des überraschten Betrachters von den Entblößten auf andere Dinge: Ein abgestürztes Flugzeug, jeweils 100 Stühle, Rüstungen, Schuhe, Handschuhe, Schlüssel, Koffer, Puppen, Brillen, Bücher usw. usf.

Mit den lebendigen biblischen Urahnen beginnt der zweite Teil einer reichlich ungewöhnlichen Ausstellung. Sie nimmt sich vor, jene Objekte vorzustellen, die den Menschen in seiner Welt am zutreffendsten repräsentieren können. „100 objects to represent the world“. So der Titel der Präsentation, die Peter Greenaway aus Anlaß des 300. Jubiläums der Wiener Akademie der Künste konzipiert und eingerichtet hat.

Der „ausgebildete Kunstmaler“ ist weltweit wohl besser bekannt als Meister des hochgebildeten Kinos. Fortwährendes Thema seiner Filme: Natürlich-kreative Lebensäußerungen als Korrektiv, als Gegenpol der Zivilisation. Die Verbindung von Natur und Mathematik ist freilich bei Greenaway keine friedliche. Was sich in seinen Filmen in der Spanne zwischen Beherrschung und Exzess entäußert, zeigt er auch in Wien nicht ohne Spannung vor. Objekte, die selten nur in der Einzahl, in ihrer alltäglichen Umgebung daherkommen. Der Begriff, die platte Nennung, das leidenschaftslose Vorzeigen ist Greenaways Sache nicht. An allen Objekten sind ihm die physische Präsenz, die Stofflichkeit, die Spuren des Gebrauchs wichtig. So präsentiert der Engländer im ersten Teil, dem früheren Depot des Burgtheaters, vor allem die Elemente des Zirkels der Natur in eindrucksvoller Rauminszenierung. Der Eintretende sieht sich zu allererst mit seinem Schatten konfrontiert, Aufforderung sich seines eigenen Da-seins bewußt zu werden, bevor er Gelegenheit hat, die 100 aufgespannten Regenschirme zu betrachten, die ihr Wasser von der Höhe des domartigen Baus aus einer künstlichen Wolke empfangen. Ein Bild der Behaglichkeit und des Ertragenkönnes der Naturgewalten. In Glasquadern wiederum Wasser, über den ästhetischen Reiz der endlosen Brechungen im Zusammenspiel mit Licht ein Verweis auf seine lebensspendende Allgegenwärtigkeit. Am Ende des Raumes schließlich eine barocke Leichenkutsche – für den Künstler Symbol verschiedenster Prinzipien: Das der Ausschweifung und Sterblichkeit ebenso wie das des Rades und der Pferdekraft.

Greenaway glaubt dabei nie nur der Oberfläche, der ersten Assoziation. So verweist er anhand des Objektes „Rollstuhl“ nicht nur auf Behinderung und Schmerz sondern auch auf den menschlichen Erfindungsgeist. Eine der aufwendigsten Installationen illustriert eindrucksvoll das Zusammenspiel von Ordnung und Gewalt – Der mit Tinte unterschriebene Vertrag, der Blut fordert: Aus 100 Infussionsbehältern, drückt sich rote Tinte über Schläuche durch an deren Ende befestigte Federhalter und läuft über ausgelegtem Papier in großen Lachen zusammen.

Peter Greenaway beschließt die Dokumentation der Welt mit einem ironischen Rekurs auf seinen Film „Prosperos Bücher“ und das Lieblingsthema der postmodernen Philosophie: Gibt es noch ein wahres Wissen um die Welt – womöglich in einem Buch – oder nur noch Bilder, deren Realität niemand kennt. Greenaway gibt uns dieses Buch. Es ist der Katalog der Ausstellung. Wie kann aber etwas, das nicht zu den 100 wichtigsten Objekten gehört, die Existenz derer glaubhaft beurkunden. Nur, wenn es selbst dazugehört. Und so zeigt uns der Künstler als 100. und letztes „Objekt“ den Katalog der eigenen Ausstellung, aufgeschlagen auf der Seite, die den Katalog, aufgeschlagen auf der Seite, die den Katalog, aufgeschlagen auf der Seite…usw.  Die Weisheit aller Dinge liegt freilich in einem Buche, das aber begraben in der Unendlichkeit.

Stefan Kanis (Freie Presse Chemnitz)

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Erlösende Verwirrung

Leander haußmann inszeniert Shakespeares „Sommernachtstraum“ am DNT Weimar.

… So hebt sein »Sommernachtstraum« mit einem quirligen, eitlen Schwarm an, der nie zur Ruhe kommt, keinen Satz wirklich zu Ende denkt und spricht: der Athener Hof des Theseus. Ohne Unterlass wird hier wahre Liebe beschworen, aber nicht ausgeführt. Nie gelingt den Paaren eine Umarmung, ein tatsächliches Ausleben ihrer Gefühle. Vom Fieber des erotischen Traumes schon ergriffen, taumeln, springen, schwanken sie durch ihr Leben. Die Grundsätze, die sie doch auf der Tagseite ihrer Existenz mit Ehr‘ und Sitte verfechten und einzulösen trachten, sind schon torpediert von der Macht des Unterleibes. Erlösend folgerichtig der Moment, da sich der Vorhang über der Hauptbühne hebt: Es eröffnet sich ein Kleinod der Bühnenbildnerkunst – Franz Havemann baut einen Märchen-Wald mit Vögeln, mechanischen Echsen, Wasser und Uralt-Eichen. In dieses Geisterparadies dringen die Athener auf der Flucht vorm Liebesverbot des Hofes. Weiterlesen

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Die Welt, eine Imitation

Peter Turrinis „Alpenglühen“ am Wiener Burgtheater uraufgeführt

Ein Sonnenaufgang in den Alpen. Schön wie im Märchen. Durch eine Glasfront fällt der rote Widerschein ins Haus. Jemand rappelt sich hoch. Ein alter Mann, ein Blinder. „Still und finster, wie immer“ – seit vierzig Jahren quittiert er das verschwenderische Naturschauspiel mit diesem Satz. Doch heute ist alles anders. Der Blindenverband hat ihm seine einzige Bitte in all den Jahren prompt erfüllt – eine Frau. Zwar mochte sich der Alte seine Begleiterin feinsinniger gewünscht haben, mit Neigung zur klassischen Literatur, doch dem Ver­band ist das Verlangen klar. Er schickt eine Hure.

Kirsten Dene als Jasmine greift denn auch mit beiden Händen nach die­ser Rolle. Sie meidet in ihrem Spiel nicht die krassesten Klischees. Doch versteht sie es meisterlich, diese Standards durch einen von Grund auf natürlichen Ton, den sie mit traum­wandlerischer Sicherheit trifft, neu zu beleben. Traugott Buhre ist ihr Widerpart, der Blinde. Ihm bleibt nichts an­deres, als zu fühlen, was im Raum vorgeht. Jedes für ihn po­sitiv deutbares Geräusch setzt er um in ein Lächeln, eine Körperbewegung, die sich zuwenden will. Doch da sind viele, zu viele Störungen. Was hat der Junge, der ihm das Essen bringt, mit seiner Göttin zu schaffen. Immer wieder stößt er ein atemloses „Was geht hier vor?“ in den Raum.

Diese ersten Konflikte sind freilich nur der Auftakt für eine gegenseitige Demaskierung. Wie in allen Stücken Turrinis ha­ben seine Figuren auch hier etwas zu verbergen, haben einen Teil ihres Ichs weggeschlossen. Von der Last der Anpassung gebeugt, gilt es für gewöhnlich, die erkämpften Territorien zu sichern, die Masken des Alltags zu verteidigen.

Die erste Verstellung gibt Jasmine preis. Die Hure sei nur gespielt, als völlig vereinsamte Mitarbeiterin des Blinden­verbandes, sei es ihre einzige Chance noch einen Mann kennen­zulernen. Später dann gibt sie sich als glücklose Schauspie­lerin zu erkennen. Die Julia, die sie nie spielen durfte, soll nun der Blinde schätzen. Dessen Vergangenheit ist ebenso erlogen. Sein Augenlicht ging ihm nicht bei der Beobachtung amerikanischer Atombombentests verloren, sondern durch einen verunglückten Sprengstoffanschlag als kleiner Nazi. Der Rück­zug auf die Alm ist nichts anderes als die Furcht vor Strafe. Doch das Vorspielen falscher Tatsachen hat auf die Natur übergegriffen. Und der Blinde spielt mit. Gegen Bezahlung er­läutert er den deutschen Touristengruppen die Bergwelt nebst Imitation der längst ausgestorbenen Tiere.

Im Unterschied zu früheren Texten löst Turrini seine harte, plastische Sprache auf. Die Menschen sind deformiert, aber nicht immer wird man es spüren. Die Deformation ist entrückt, hat sich vervielfältigt. Gefühle und Stimmungen sind zur Imi­tation freigegeben. Der Blinde erfährt es am deutlichsten, muß er sich doch jede Nachricht aus dem Radio in Bilder über­setzen. Doch das Tempo beschleunigt sich. Er kann dem Bilder­sturm nicht mehr folgen. Autosalons, Kriege und Wiederverei­nigungen vermengen sich. „Trauer und Freude wechseln einander nicht mehr ab, sie sind aufgelöst.“ Wie der Blinde die Welt verweigert, indem er sein Radio nicht mehr nutzt, läßt sich die Frau vom Blinden in ihre Scheinwelt der Schauspielerei zurückrufen. Während sie sich noch einmal in die Rolle der Julia begibt, bringt sich draußen der Junge um, noch bevor er zu seiner Sprache gefunden hat. Geschieht die Katastrophe in ihrer nächsten Umgebung, dann schließt Jasmine schnell das Fenster und der Blinde lächelt und sagt: „Still und finster, wie immer.“ Nun kommen doch noch ‚Glückliche Tage‘, außerhalb von Schuld und Wahrheit.

Zu all diesen Gedanken gibt die Regie von Claus Peymann nur einen Anstoß. Der Abend ist sorgsam und konzentriert erarbei­tet, selten impulsiv, nie maßlos. Turrinis Text läßt dabei durchaus anderes zu. Man darf auf die anstehende Chemnitzer Inszenierung gespannt sein.

Stefan Kanis (Freie Presse Chemnitz, 1992)

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Symbole, Gags, Banalitäten

Büchners „Woyzeck“ – letzte Premiere vor der Spielzeitpause

Einen Fels noch, zum Ende der Spielzeit, hat sich das Städtische Schauspiel in die zerklüftete Küstenlinie seines Spielplanes gerückt. Da liegt er nun – kantig, verschroben, ein Bote aus der Urzeit. Das Begleitheft zum Abend weist auf den Umfang des Brockens noch hin: Woyzeck sei ein altes, dummes Märchen, ein soziales Rührstück, typischer Kassenschlager einer Bühne, die sich als moralische Anstalt verstünde. Hier wird offensichtlich signalisiert: So nicht, nicht in Chemnitz.

Martin Nimz‘ Woyzeck ist denn auch nicht Vertreter der unterdrückten Klasse sondern gibt einen Menschen, der ins Getriebe des Bösen gerät. Und das Böse steckt in all dem, was auf dieser Welt dressiert, verbohrt und un-natürlich ist. Seien es die obskuren Experimente des Doktors, zu denen Woyzeck sich des Geldes wegen zur Verfügung stellt. Sei es das eitle Funkeln des Tambourmajors, der des Woyzecks Marie den Kopf verdreht. In knapp zwei Dutzend Szenen hat Büchner die Hatz der Hauptfigur hin zum Mord an Marie und dem Gang ins Wasser skizziert. Ein kruder Entwurf, keine gediegene Literatur, zweifellos. Nur ein agitatorisch-soziales Rührstück, schwelte nicht zwischen den Zeilen ein ‚falscher‘ Ton, eine Anmerkung zum Lauf der Welt, die auf „Krieg den Palästen“ nicht zu reduzieren ist.

Dieser Untertext spricht in einem Halbsatz vom ganzen (Un)Sinn des Menschengeschlechts. Eine untergründige Dimension freilich, deren sinnliche Erlebbarkeit auf der Bühne entfaltet werden will. Genau hier entwickelt Regisseur Arne Retzlaff kaum szenische Phantasie. Er gestaltet den Abend als inszenatorische Gemischtwarenhandlung: Schwergänige Symbolik tritt zwischen realistische Figurenbeziehungen, durchsetzt mit Gags aus der Slapstick-Tradition (Woyzeck drückt sein Schnappmesser etliche Male gegen Maries Leib – immer wieder rutscht die Klinge ins Heft zurück: Zweiminütiges Sinnbild des Satzes: Kannst du nit‘ sterbe, Marie.)

Dagegen steht das Bemühen der Darsteller um intensives Spiel auf schwierigem Posten. Sylvia Wolff als Marie und Sebastian Kowskis Tambourmajor gelingen dabei jene Szenen, die vermittels ihrer emotionalen und körperlichen Spannung, sich gegenüber dem büchnerschen Text noch am meisten behaupten können. Das Ensemble spielt im ganzen mit großem Einsatz, der Aufführung jedoch fehlt ein Grundgedanke, ein inhaltliches Wollen.

So liegt der Brocken in der Brandung, ein Stein mehr eben.

Stefan Kanis (STADTSTREICHER Chemnitz, Aug. 1992)

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Erschreckter Blick in eine andere Welt

Christian Martins „Bunker“ in Leipzig uraufgeführt

Ein Bunker. Synonym für Überlebensraum auf Zeit, für ein vom Tode geborgtes Noch-Leben. Christian Martin wählt diesen Raum als Spielort seines Textes und verschmilzt gerade erst Geschichte gewordene Realitäten zu einer Draufsicht auf die Chancen einer deutschen, einer eu­ropäischen Zivilisation der Zukunft. Staatsicherheit und Rechtsradikalismus – so die Grundkonstruktion des Spiels – zwei Seiten derselben Medaille. Aus der Asche des einen Repressionssystems wächst das nächste schon hervor. Weiterlesen

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Der Drache in uns allen?

Jewgeni Schwarz‘ Der Drache im städtischen Schauspiel

Hartwig Albiros Theaterarbeit stellt sich bewusst in eine Tradi­tion, der es um den Gegenwartsbezug von Kunst zu tun ist. Die 1943 entstandene Märchenkomödie verhandelt – freilich im märchen­haften Sujet – Fragen von Macht und Korruption, von Deformation und dem Sich-Einrichten in Machtstrukturen. Die Motive zur Wahl des Stoffes für die Bearbeitung zur Bühnenfassung liegen auf der Hand.

Ein Drache beherrscht seit vierhundert Jahren eine Stadt. Sie hält ihn aus, opfert ihm jährlich eine Jungfrau. Er schützt die Gemeinde vor anderen Drachen und – vor den Zigeunern. Das Untier steht nur an der Spitze einer Hierarchie, die davon lebt, daß die jeweils höhere Autorität nicht angegriffen wird. Der berufsmäßige Held Lancelot tötet den Drachen. Nichts verändert sich, die Hierarchie baut sich nur um; mit berufsmäßigen Helden kann und will keiner leben. Der Held muß wiederkommen und nach der großen Tat die unangenehme Kleinarbeit der Umerziehung überwachen. Dies alles kleidet sich in eine klare, übersichtliche – eben märchenhafte – Fabel, von der Fühmann schrieb, man könne sie zwanglos in ein moralisches Koordinatensystem übertragen; Gut ist Gut, Böse bleibt Böse; die Helden gehen, wie sie kommen, nämlich als unwirkliche, übermenschliche Helden. Ihr Handlungsraum ist ein Niemandsland. Weiterlesen

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