In Wien zeigt Peter Greenaway die 100 wichtigsten Dinge der Welt
Die Wiener Hofburg, ehrwürdiges Zentrum königlich-kaiserlicher Tradition, überrascht den Besucher derzeit mit Ungewöhnlichem. Nur wenige Schritte in den Prunkbau hinein – und man trifft auf ein nacktes Menschen-Paar: Adam und Eva, aus Fleisch und Blut. In einem Glaskasten sitzen die beiden, hin und wieder ein paar Worte flüsternd – wie sie Gott geschaffen hat. Geniert schweift der Blick des überraschten Betrachters von den Entblößten auf andere Dinge: Ein abgestürztes Flugzeug, jeweils 100 Stühle, Rüstungen, Schuhe, Handschuhe, Schlüssel, Koffer, Puppen, Brillen, Bücher usw. usf.
Mit den lebendigen biblischen Urahnen beginnt der zweite Teil einer reichlich ungewöhnlichen Ausstellung. Sie nimmt sich vor, jene Objekte vorzustellen, die den Menschen in seiner Welt am zutreffendsten repräsentieren können. „100 objects to represent the world“. So der Titel der Präsentation, die Peter Greenaway aus Anlaß des 300. Jubiläums der Wiener Akademie der Künste konzipiert und eingerichtet hat.
Der „ausgebildete Kunstmaler“ ist weltweit wohl besser bekannt als Meister des hochgebildeten Kinos. Fortwährendes Thema seiner Filme: Natürlich-kreative Lebensäußerungen als Korrektiv, als Gegenpol der Zivilisation. Die Verbindung von Natur und Mathematik ist freilich bei Greenaway keine friedliche. Was sich in seinen Filmen in der Spanne zwischen Beherrschung und Exzess entäußert, zeigt er auch in Wien nicht ohne Spannung vor. Objekte, die selten nur in der Einzahl, in ihrer alltäglichen Umgebung daherkommen. Der Begriff, die platte Nennung, das leidenschaftslose Vorzeigen ist Greenaways Sache nicht. An allen Objekten sind ihm die physische Präsenz, die Stofflichkeit, die Spuren des Gebrauchs wichtig. So präsentiert der Engländer im ersten Teil, dem früheren Depot des Burgtheaters, vor allem die Elemente des Zirkels der Natur in eindrucksvoller Rauminszenierung. Der Eintretende sieht sich zu allererst mit seinem Schatten konfrontiert, Aufforderung sich seines eigenen Da-seins bewußt zu werden, bevor er Gelegenheit hat, die 100 aufgespannten Regenschirme zu betrachten, die ihr Wasser von der Höhe des domartigen Baus aus einer künstlichen Wolke empfangen. Ein Bild der Behaglichkeit und des Ertragenkönnes der Naturgewalten. In Glasquadern wiederum Wasser, über den ästhetischen Reiz der endlosen Brechungen im Zusammenspiel mit Licht ein Verweis auf seine lebensspendende Allgegenwärtigkeit. Am Ende des Raumes schließlich eine barocke Leichenkutsche – für den Künstler Symbol verschiedenster Prinzipien: Das der Ausschweifung und Sterblichkeit ebenso wie das des Rades und der Pferdekraft.
Greenaway glaubt dabei nie nur der Oberfläche, der ersten Assoziation. So verweist er anhand des Objektes „Rollstuhl“ nicht nur auf Behinderung und Schmerz sondern auch auf den menschlichen Erfindungsgeist. Eine der aufwendigsten Installationen illustriert eindrucksvoll das Zusammenspiel von Ordnung und Gewalt – Der mit Tinte unterschriebene Vertrag, der Blut fordert: Aus 100 Infussionsbehältern, drückt sich rote Tinte über Schläuche durch an deren Ende befestigte Federhalter und läuft über ausgelegtem Papier in großen Lachen zusammen.
Peter Greenaway beschließt die Dokumentation der Welt mit einem ironischen Rekurs auf seinen Film „Prosperos Bücher“ und das Lieblingsthema der postmodernen Philosophie: Gibt es noch ein wahres Wissen um die Welt – womöglich in einem Buch – oder nur noch Bilder, deren Realität niemand kennt. Greenaway gibt uns dieses Buch. Es ist der Katalog der Ausstellung. Wie kann aber etwas, das nicht zu den 100 wichtigsten Objekten gehört, die Existenz derer glaubhaft beurkunden. Nur, wenn es selbst dazugehört. Und so zeigt uns der Künstler als 100. und letztes „Objekt“ den Katalog der eigenen Ausstellung, aufgeschlagen auf der Seite, die den Katalog, aufgeschlagen auf der Seite, die den Katalog, aufgeschlagen auf der Seite…usw. Die Weisheit aller Dinge liegt freilich in einem Buche, das aber begraben in der Unendlichkeit.
Stefan Kanis (Freie Presse Chemnitz)