Nur ein Junge von nebenan

„Roberto Zucco” von Bernard-Marie Koltes am Staatsschauspiel Dresden

Roberto Zucco ist ein Mörder. Er tötet vier Menschen, zuerst seine Eltern. Zucco ist weder wahnsinnig noch tötet er aus Langeweile. Zucco ist anders – er ist ein Held. Die Gesetze einer scheindemokratischen Ethik überschreitet er wie zufällig; er bemerkt sie nicht einmal. Wie aus einer tiefen, längst verschüttet geglaubten Erdschicht aufsteigend, verströmt Zucco einen dunklen Lebensstrom, eine archaische Unbedarftheit. Erschreckend und schön.

Wie auch die anderen Helden der Stücke von Koltes ist er ein Enkel der Hesseschen Demians und Hallers. Doch wo der deutsche Erzähler humanistisch-elitäre Logen der gei­stigen Kultur im Angesicht eines nie­dergehenden Europas konzipiert, erklären die Figuren des französi­schen Dramatikers den stillschwei­genden Gesetzen der Bürgerlichkeit den Krieg. Als Ausgestoßene treten sie urplötzlich ins Rampenlicht und fordern das, was ihnen gemäß erscheint: Sühne. Das bürgerliche Europa wird sich dem Ansturm der „Unterprivilegierten aller Länder” erwehren müssen. Das kostet Blut, „und Blut ist das einzige auf der Welt, was nicht unbemerkt durchgeht.” Auch deshalb tötet Zucco.

Koltes versieht die fünfzehn Sze­nen des Stückes mit Untertiteln. In der Manier des Stationendramas berichtet der Autor vorn „Ausbruch” Zuccos aus dem Gefängnis, dem Mord an der Mutter, dem Kennenler­nen eines Mädchens, dessen Verrat an Zucco und seinem Ende: „Zucco in der Sonne”.

Die Bühne von Frank Hänig zeigt durchweg einen Winkel zweier stei­ler, rissiger Betonwände. Wenige Requisiten verwandeln den Spiel­raum vom Gefängnishof zum Warte­saal oder zum unwirtlichen Park. Konsequent auch in der Betonung des stetig aber unaufhaltsam voran­schreitenden Unheils: die Regie. Valentin Jeker bremst den Rhythmus der Inszenierung immer wieder. Nach jeder der Szenen senkt sich der Vorhang wie der Buchdeckel über einem lakonischen Bericht. Mitleidlos versagt er dem Sujet, das man sonst in einem Thriller an seinem Platz glaubt, jede magische, illu­sionäre Kraft. Immer soll man in die­ser Aufführung vor allem hören und nicht sehen, überdenken und nicht erschrecken. Die Inszenierung zahlt vor allem im zweiten Teil dafür den Preis gelegentlicher Langatmigkeit, mangelnder Präzision und Energie.

Anders zu Beginn: Keine überflüs­sige Geste in den Konfrontationen, eine festgelegte Distanz wird nicht überschritten. Zucco hört sich minu­tenlang die Schimpflitanei seiner Mutter an. Unbewegt steht er hinter dem Vorhang und fordert in kurzen, schnellen Sätzen nur sein Drillichzeug. Daß sie ihm nicht das Einfach­ste gibt, was er haben möchte, sein dreckiges Drillichzeug, wird ihr zum Verhängnis. Sein Streicheln geht, als er sich verabschiedet, in ein Würgen über. Einprägsam kontrastiert sich hier die in endlosen Worten leerge­laufene Wiederkehr des Abgelebten mit einer inneren, instinkthaften Spannung Zuccos, die nie ohne Rest sich selbst wird erklären können. Diese Spannung will handeln – unbe­grenzt und frei.

Die spielerische Umsetzung bleibt bei Ahmad Mesgarha als Robert Zuc­co stets verhalten, aber zu wenig abgründig. Die Regie hält ihn an, mehr der Junge von nebenan als der große Mythos zu sein, nur gibt sie ihm zu wenige Spielanlässe, seine Figur differenzierend auszustellen. So bleibt der junge Zucco in Dresden ein Rätsel – aber eines, das mit fortschreitendem Abend nicht mehr zu fesseln vermag. So wird die Unge­heuerlichkeit der Vorgänge nicht recht deutlich: Die distanzierte Klar­heit der Erzählung des Beginns ist verwischt, eine dramatisch-aktions­reiche Zuspitzung der Story findet nicht statt. Manch reiches, schönes Schauspiel, wie das von Albrecht Goettes Polizist, Henriette Cejpeks Schwester und Hannelore Koch als elegante Dame fällt auf teilweise unbereiteten Boden. Im Ganzen ver­mag sich die Inszenierung gegenüber dem anspruchsvollen Text leider kein überzeugendes Eigenleben zu schaf­fen.

Stefan Kanis (Freie Presse Chemnitz)

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