Der Drache in uns allen?

Jewgeni Schwarz‘ Der Drache im städtischen Schauspiel

Hartwig Albiros Theaterarbeit stellt sich bewusst in eine Tradi­tion, der es um den Gegenwartsbezug von Kunst zu tun ist. Die 1943 entstandene Märchenkomödie verhandelt – freilich im märchen­haften Sujet – Fragen von Macht und Korruption, von Deformation und dem Sich-Einrichten in Machtstrukturen. Die Motive zur Wahl des Stoffes für die Bearbeitung zur Bühnenfassung liegen auf der Hand.

Ein Drache beherrscht seit vierhundert Jahren eine Stadt. Sie hält ihn aus, opfert ihm jährlich eine Jungfrau. Er schützt die Gemeinde vor anderen Drachen und – vor den Zigeunern. Das Untier steht nur an der Spitze einer Hierarchie, die davon lebt, daß die jeweils höhere Autorität nicht angegriffen wird. Der berufsmäßige Held Lancelot tötet den Drachen. Nichts verändert sich, die Hierarchie baut sich nur um; mit berufsmäßigen Helden kann und will keiner leben. Der Held muß wiederkommen und nach der großen Tat die unangenehme Kleinarbeit der Umerziehung überwachen. Dies alles kleidet sich in eine klare, übersichtliche – eben märchenhafte – Fabel, von der Fühmann schrieb, man könne sie zwanglos in ein moralisches Koordinatensystem übertragen; Gut ist Gut, Böse bleibt Böse; die Helden gehen, wie sie kommen, nämlich als unwirkliche, übermenschliche Helden. Ihr Handlungsraum ist ein Niemandsland.

Schwarz‘ Stück bricht diese Eindimensionalität auf und kontra­stiert wirkungsvoll unsere Wunschvorstellung mit der Realität: Der ärgerliche Zustand der Drachenherrschaft im Märchenland ist mit dessen Tötung nicht beendet. „Wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“ – nicht Hänsel und Gretel, sondern die kleinen Drachen; der Held muß Kleinarbeit leisten. Der Inszenierung gelingt es jedoch selten, diesen dramaturgischen Leitfaden überzeugend umzusetzen. Sie versucht, das Unwahrschein­liche, die Ungeheuer und Helden in einem sehr realistischen, eben gegenwartsbezogenen Raum anzusiedeln, ohne darin konsequent genug zu sein und die daraus entstehenden (komischen) Widersprüche zu nutzen.

So geraten die Figuren in den Zwiespalt zwischen Künstlichkeit und Realismus, der Unbehagen erzeugt. Manche Anspielung („Ich liebe euch doch alle!“) wird in den Originaltext einmontiert und beschädigt zugunsten einer vordergründigen Aktualität die Melodie der Szene. Sensibler gearbeitete Eingriffe, wie beispielsweise die Übernahme von Sprachfloskeln des besiegten Drachens durch den neuen Präsidenten, befördern durchaus Einsichtigkeit und Insze­nierungsabsicht. Auch bereitet die sinnliche Übersetzung des dreiköpfigen Ungetüms sowie anderer Standards der Märchenwelt Schwierigkeiten: Fliegen­der Teppich und Tarnkappe verbleiben – natürlicherweise – in der metaphorischen Andeutung, die kleinen Feuertricks des Drachens werden illusionistisch nachvollzogen. Dies trägt in ähnlicher Weise zur Unentschiedenheit bei, wie Teile des Bühnenbildes. Gespielt wird in einem Guckkasten, der im ersten Bild Märchenambiente zitiert, im zweiten an horváthsches Milieu erinnert, um im vierten und im Bühnenvorhang ein surrealistisches Motiv aufzunehmen.

Der Versuch, aus den Figuren der Märchenkomödie realistische Charaktere herauszuarbeiten, gelingt sehr unterschiedlich. Vor allem Silke Röder als Elsa, die zu opfernde Jungfrau, schafft sich einen eigenen, vielschichtigeren Raum. Sie überwindet die Angst vor der Konvention hin zum Geständnis ihrer Liebe zu Lancelot, dem Befreier. Andreas Möckels Heinrich, die rechte Hand des Drachens, bleibt in der Ausstellung seines perfiden Charakters etwas zu gefällig und gleichmäßig. Wenn er die eigentlich ihm zugedachte Elsa an seinen Vater verkuppelt ist Expressiveres, Abgründigeres denkbar. Die dankbare Rolle des vom (vorgespielten) Wahnsinn geplagten Bürgermeisters hat Bernd Herold übernommen. Er erreicht nur in wenigen Momenten des Spiels mit seinem Sohn genauere, differenziertere Ausdrucksmöglichkeiten. Sein mimisches und gestisches Repertoire nutzt sich zu schnell ab, zu vieles erinnert an Bekanntes aus vorhergegangenen Aufführungen. Lutz Salzmann ist Elsas Vater, der Archivar. Er nimmt sich nach fein­fühligem Spiel im ersten Teil zuweit auf den gebrochenen Vater – zerwühltes Haar und loser Schlips – zurück.

Unter den Drachenköpfen, die unspektakulär und ohne Klischees von Sebastian Kowski, Gerhard Händel und Stefan Schweninger Gesicht und Stimme erhalten, gibt besonders letzterer seinem komödiantischen Affen Zucker.

Wer oder was ist Lancelot? Jürgen Lingmann verläßt sich bedauer­licherweise völlig auf die Vereinbarung, daß er der Held des Stückes sei. Er durchschreitet die Inszenierung als emotionales Neutrum, ohne dabei das Charisma einer solchen Lesart entfalten zu können. Die Umerziehung der kranken Seelen kann man ihm nicht zutrauen. Sollte Lancelot mit Absicht der Held aus dem Märchen­buch sein, der aus dem Unwirklichen kommt und ins Unwirkliche zurückgeht? Ein anderer Mensch, der anders fühlt, anders denkt, anders spricht – also auch anders spielt? Zuviel Vermutung, zuwenig Provokation!

Stefan Kanis (STADTSTREICHER 04 /1991)

Premiere am 8.3.1991 im Schauspiel Chemnitz | R: Hartwig Albiro

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