Remake einer Erinnerung

Frank Castorf inszeniert die „Nibelungen“

Worms am Rhein. Die große Halle ist eher ein Unterstand. Notlampen, Eisenträger, eifelturmvernietet. Drinnen die Burgunden. Man posiert; will beginnen zu raufen – „S‘ ist heilger Tag” König Gunther hebt beschwichtigend die Hände. Keine Kampfesmätzchen heute unter den Burgunden. Mißmutig trollen sich die Recken wieder auseinander. Langeweile zu Worms. Da kommt Siegfried gerade recht. Er ist ein synthetischer Held, zwiefach, ein Schönling, ein Bübchen: Seine Riesenkräfte, seine Unverletzlichkeit haben sich nochmals abgespalten und materialisiert – in sieben Amazonen, Kolleginnen des Kresnikschen Tanztheaters. Diese wiederum pilgern nach Sigefrieds Tod als ungebundene Energie durch den Abend, variabel und frei adaptierbar. Die Amazonen bilden als sperrigstes Moment wohl die zentrale interpretative Herausforderung der Inszenierung.

Die deutschen Recken, denen Siegfried seinen Besuch abstattet, sind ihrer selbst nicht ganz mächtig. Geste und Kostüm ironisieren milde die »Nibelungen« aus Fritz Langs Stummfilm. Die Distanz, die zu Kettenhemden und Runenästhetik aufgebaut wird, fußt – wie auch anders – auf parodistischen Verfahren. Sprache wird ausgeformt bis zur Entleibung. Gerd Preusche als König Gunther ist hier der Meister des gesteigerten Organs. Was er auch ausspricht – und sei es tiefste Trauer: Es scheint, als könne kein Sinn der Welt so tief sein, daß er der Intensität, mit der Preusche ihn ausspricht, gerecht würde. So kommt kein Text bei ihm mit seinem Leben, seiner Botschaft davon. Herbert Fritsch als Hagen schlängelt sich, vom öligen Scheitel bis zur gebogenen Sohle windend, auf greinende Art durch seine Rede. Hagen, der Demagoge vor Ort, besteht gelegentlich nur noch aus einem biegsamen Strich von Körper, dessen Aufgabe es ist, den übermäßig breiten Mund über der Wasserlinie zu halten. Brunhild schließlich ist es fremd, daß man mit Menschen sprechen soll und nicht mehr nur noch in Morden redet. Sophie Rois regiert ihre Stimmbänder entsprechend. Aus dem Rohmaterial des Tons, aus dessen Frequenz und Modulation, formt sie bizarre Lautgebilde des Extremismus. An diesem Dreigestirn vor allem realisiert sich der Ton der Inszenierung im ersten Teil. Die Langschen »Nibelungen“ übermalt mit dem Bild des modernen Bösen auf Arbeit, seinen Problemen und Nöten, seinem Alltag – mehr „Pulp fiction” als „Natural born killers”.

Der Clou des zweiten Teils, unterm Aspekt der sprachlichen Veräußerung, dann der Rüdeger Hendrik Arnsts. Aus einem gehörigen Resonanzraum tönt eine massive und dennoch weiche, im Bereich des „S“-Konsonanten zu absonderlichen Verzerrungen bereite Stimme. Möchte man über den Genuß an dieser Stimmarbeit, an der das ganze Ensemble in verschiedener Intensität teilhat, auf weiteres reflektieren, dann vielleicht auf die Vermenschlichung, Repersonalisierung des Textsinns. Zweifelsohne kommt bereits Hebbels lakonische Sprache dem entgegen.

Nachdem man am Hofe zu Worms mit Siegfried einig geworden ist und die Recken ausziehen, Brunhilde zu gewinnen, ereignet sich etwas Seltenes in Castorfs Theater: Der Schauplatz wandelt sich. Die Drehbühne dreht Worms in den Hintergrund, eine Pappschloß-Silhouette schwebt herab, vorn die blanken Bühnenbretter. König Gunther und Gefolge in schlecht sitzenden schwarzen Anzügen, wie sie gern Arturo Uis Bande angezogen werden – zweitklassige Macher. (Diese Kostümierung wird sich wiederholen, wenn sie die nächste faule Sache aushecken.) Brunhilds Amme Frigga verstärkt diese brechtsche Irritation ungemein. Susanne Düllmann ist in ihrer zierlichen Statur nur noch Kettenhemd und Stahlhelm. Sie führt dem Publikum eine Alte vor, die ausschließlich geprägt ist von gesellschaftlichen Einschreibungen. Wenn auch das Gesellschaftliche im nordischen Isenland sich aufs Ideologische, auf die Wiedergeburt der alten Götterverengt. Nichtsdestotrotz– folgte man der vorsichtigen Interpretationseinladung, die die Inszenierung an dieser Stelle ausspricht, so dürfte man das Geschehen als Parabel nehmen. Wenn nicht gerade die Ernsthaftigkeit, mit der Düllmann im Laufe des Abends kanisterweise Blut als Zeichen der Rache bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf der Bühne ausschüttet, das Maß, das die Parabel nötig hat, überschreitet. Ist der erste Liter noch Zeichen, ist der zehnte Spleen. Die Fragwürdigkeit der symbolischen Geltung des Inszenierten und des daran anknüpfenden Interpretationsspiels wird von den Schauspieler-Kollegen an entsprechender Stelle dann auch beim Namen genannt. Neben dem Odenwald und Rüdegers Burg, für die Peter Schubert Soffittenkulissen in naiver Manier entwirft, legt sich die Bühnenmaschinerie noch einmal aufs höchste ins Zeug, wenn es gilt, für eine Reprise aus dem Nibelungen-Film das Ambiente von Kriemhilds Zank mit Brunhild um den Vorrang des Eintritts in den Dom nachzubilden. Staunenden Auges kann man Glanzleistungen der inszenierten Kunst des Bühnenbildens bewundern, die so in der Volksbühne noch nicht zum Zuge kam.

In einer fast beschaulichen Ruhe ordnet Castorf ästhetisch-konzeptionelle Mittel nebeneinander. Auf die gnädige Ironie gegenüber den mythologischen Vorfahren folgt das Zitat der brechtschen Transparenz sozialer Beziehungen, wiederum abgelöst vom augenringbeschwerten Individualpathos des Stummfilms. Castorf zeigt keine Lesart, sondern das Remake einer Erinnerung. In dieser Erinnerung an die Nibelungen tauchen neben dominanten sinnlichen Eindrücken auch Schatten von Interpretationen auf. Unrein und verzerrt freilich – aus dem Blickwinkel der Deutungen. Erwartete man sich im Nachklang des „Stahlgewitter“-Diskurses markige Hauptsätze, starke Verben oder wenigstens deutliche Kommentare, so wird man enttäuscht. Kein publizistisch verwertbarer Bezug auf Deutschland, Nationalismus oder Neue Rechte. Auch auf die bei Hebbel angelegten Momente der „Nibelungentreue”, auf die Macht des Symbolischen, auf die Tauglichkeit der neuen Religion kommt Castorf höchstens en passant zu sprechen. Am meisten folgt er dem Autor in der Zeichnung der selbstbezüglichen Mechanik des Hasses, die vor allem in Brunhilds Stimmungen Blüten treibt. Nach deren pflichtgemäßem (aber bedauerlichen) Abgang von der Bühne, wird auch das „Haß“-Motiv im zweiten Teil nur noch zitiert – als Videoausschnitt aus „Natural born killers” bzw. einem Baudrillard-Text zum Thema. Die Belegschaft der Burgau Worms jedoch ist es nicht, von der man solch Abgründiges zu erwarten hätte. Das Handeln der Privilegierten folgt trockenen Notwendigkeiten, die sie sich in einem Anflug von Größenwahn selbst eingebrockt haben.

Man darf das Teil ruhig als Ganzes nehmen: Ihre große Stunde haben die Burgunden, wenn sie sich mit einem kräftigen „Good bye Johnny« auf den Lippen minutenlang von Bühnenarbeitern in ihrem Nachen den Bühnen-Rhein hinauf und hinunter ziehen lassen. Das Private ist das Politische ist das Private. Und einmal mehr tritt die rigorose Behauptung der Individualität der Schauspieler hervor. Nur einen mäßigen Teil ihrer Energie verwenden sie darauf, sich in Könige zu verwandeln, für den ganzen Rest bleiben sie mit Freude Artisten. Auf Castorfs Bühne schneiden sich viele Linien; wenn es sein muß, in einem Wort. Autorentext und die Tücken der Aussprache, Symbolisches und ausschließlich Selbstbedeutendes. Der Gewinn liegt wieder einmal in der Erfahrung, daß es nichts Reines gibt, die Verdrängung des Realen beim Textlernen beginnt. Die gelungenen Bilder des Abends verbinden sich mit dem Aufleuchten unmittelbarer komödiantischer Kraft, weniger mit interpretativen Ansätzen. Oder anders: Die Interpretation muß durch den Spieler – möglichst zu hundert Prozent.

Stefan Kanis (Theater der Zeit, Jul 1995)

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