Theater der Grausamkeit

Martin Nimz inszeniert Strindbergs „Rausch“ am Schauspiel Chemnitz

Ein roter Samtvorhang umschließt die geneigte Spielfläche. Schwarz-weiß kariert. Ein Schachbrett. Statt dem Gnom aus Twin Peaks schaut ein weißer Läufer mal herein. Nichts los. Da geht er mal wieder.

Petra Förster spricht – als Bauer? – einen Text über die Schlechtigkeit des Menschen. Im Programmheft heißt sie August. Bei Strindberg war sie vorerst nicht vorgesehen. Abwarten.

Danach im Bistro: Geometrische Formen nehmen zu, was die Kostüme betrifft. Am meisten Geometrie bei Frau Catherine (Oda Pretzschner), sie ist sicher wichtig, ist vielleicht die Mutti. Auf jeden Fall kann man sich bei ihr schön auskotzen. Man tut es halbherzig. Eine wirkliche Riesen-Schnecke regt sich und zieht sich wieder zurück. (Sensibel im Gehäuse: Kai Börner. Im Programmheft und bei Strindberg geführt als der Bruder – wessen will ich mal noch nicht verraten!) Der Dramatiker Maurice, im Gelb/Blau der Liberalen: Johannes Mager, feiert den Triumph seinen Stücks. Ist in Paris gut angekommen. Hundertausend Francs sind ihm sicher. Das ist schon die zweite Kneipenszene. So sind sie, die Künstler.

Das Theater ist ein Schlachtfeld, sagt Maurice. Da hat er Recht! Und August – der Bauer? – gleich noch einen drauf: „Talent haben ist lebensgefährlich, weil man da leicht verhungern kann.“ Na, so schlimm wird’s in Deutschland nicht werden.

Der Dichter rauft sich nun mit der Freundin seines Freundes zusammen und auch die Riesen-Schnecke findet eine zweite zur Paarung. Und dann, kurz vor der Pause, schmeißt doch August, der Bauer, den Kinderwagen um. Mehrere Liter Blut strömen das Schachbrett hinab. Krasser Effekt. (Welchen Kinderwagen? Der liberale Dichter hat noch ein uneheliches Kind mit einer unästhetischen Frau. Er verläßt sie, wie eben geschildert. In der Pausengastronomieschlange Nachgrübeln über die Frage: Ist August vielleicht gar kein einfacher Bauer, sondern das alter ego vom Dramatiker, dem alten Ego.)

Nach der Pause geht’s dem Dichter an den Kragen, man beschuldigt ihn, er hätte sein Kind auf dem Gewissen. Aber was ist schon Gewissen. Michael Thalheimer – als Freund, dem die Freundin ausgespannt wird – weiß da genau bescheid. Und er sagt es uns. Das hilft ihm wenig, seine Freundin ist er los. Ersatz muß her und er versucht doch tatsächlich Frau Catherine zu besteigen – mehrfachen und in des Wortes wahrstem Sinne. Zurück zu Maurice, dem Dramatiker. Nichts wird so heiß gegessen, wie’s gekocht wird: Er kommt frei, wird rehabilitiert. Der weiße Läufer vom Anfang, im Nebenberuf Pastor, Polizist und Teufel, hatte in der Intrige kräftig seine Finger drin. Nun ist er das schwarze Schaf. Er bringt es massiv und auf Rädern gleich mit.

Und nun kommt’s noch dicker. Wo die Wogen äußerlich geglättet sind, geht’s innwendig um so gewaltiger her. Die ganze Bohemien-Sippschaft geht doch jetzt über die Schnecke her. Lyncht sie auf das Übelste und verspeist sie als Delikatesse. (Nicht wirklich!) Aber grausam ist es trotzdem.

Manchmal stört, daß überhaupt gesprochen wird. „Rausch“ ist ein Bildertheater – bis weit über den Rand vollgepackt mit allem und nichts. Als Zuschauer braucht man dafür einen langen Atem und viel Phantasie.

Stefan Kanis (Stadtsteicher Chemnitz, August 1994)

„Rausch“ von August Strindberg | Regie: Martin Nimz | Bühne: Olaf Altmann | Mit: Johannes Mager, Heike Meyer, Michael Thalheimer, Silke Röder, Kai Börner, Oda Pretzschner, Petra Förster u.a. | Städtische Theater Chemnitz | Premiere: 18.06.1994

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