Erzählen Versuchen Erleben

Tom Wolter und die Freien Komödianten

Es ist wahrlich an der Zeit, an dieser Stelle aufmerksam zu machen auf die „Freien Komödianten“ – wenn es denn dessen noch bedarf. Was sich mit dem „Schuster“, einer Verlustbeschreibung des Übergangs vom Handwerkeln zur Serienproduktion, als Einblick gastspielhalber in die Off-Szene Halles darzubieten schien, war alles andere: war der Auftakt stetiger kultureller Kontakte zwischen Saalestädtchen und Pleißemetropole. Die Dinge haben sich derweil rasant entwickelt: Die Freien Komödianten schicken sich an, alles quantitativ Dagewesene an Premieren pro Spielzeit in den Schatten zustellen. Im Oktober des letzten Jahres trat man mit dem Handwerker-Stück hervor, der erste Donnerstag des Wonnemonats Mai wird uns in der naTo „Die Freude“ bescheren. Dies wäre die fünfte Arbeit.

Das Erscheinen der Freien Komödianten entpuppt sich dabei als Heimkehr. Spiritus rector Tom Wolter, Mitte zwanzig, ist in Leipzig gebürtig und genoß die Schauspielerausbildung im Musikerviertel; auf Gattin Conny trifft selbiges zu. Engagement und Gastvertrag verschlug das Ehepaar ans hallesche „neue theater“. Nun meldet man sich zurück; massiert und nicht ohne generalstabsmäßige Planung. Leipzig will neu erorbert sein. Womit?

Die Stücke der Freien Komödianten heißen „Der Schuster“, „Das Theater“ und „Die Freiheit“, sprechen von „Dämmerung und Verfall“ oder schlicht der „Freude“. Elementares, Visionäres, Grundsätzliches steht in Rede, wenn die Komödianten zum Spiel ansetzen. Doch nicht, daß dieses Elementare auf der Bühne verhandelt würde, zumindest nicht nur – die zentrale Frage der Freien Komödianten ist eine ans Publikum: Können Sie sich das vorstellen? Können sie sich überhaupt noch etwas vorstellen?! Die Komödianten erzählen Welt, reden sie uns ein wenig ein, im besten Sinne des Wortes. In der Erzählung nistet Erfahrung, der Humus des morgen, unmittelbar neben der Phantasie für Ungedachtes. Aus Tradition erwächst die Welt des Schusters, der seiner Straße, den Schuhen, den Menschen, in materiellster, beseltester Weise verbunden ist. Keine Frage für ihn, zu welcher Person das Hühnerauge gehört, das erst dem Schuh und nun ihm zu schaffen macht. Doch die Idee einer, seiner, Fabrik löscht sein Gedächtnis, besetzt seine Wahrnehmung. Die Idee versteinert ihn. Doch das Aufgeschobene, Unausgesprochene, Unterbewußte arbeitet im Diffusen, drängt ans Licht, sprengt die Wirklichkeit und möchte werden: Freiheit.

Tom Wolter sucht im Parkett nach den Menschen zu den Eintrittskarten. Überlegt und eindringlich spricht er vom Theater als Ort des authentischen Erlebens, bedankt sich ironisch bei den Medien, daß sie ihm dieses hungrige Feld überlassen. Die letzte Vorstellung sei der spannende Moment, das etwas zu Ende geht, vorbei ist, unwiederholbar. Die originäre Verbindung von Fiktion und Wirklichkeit wohnt in Wolters Theater in der Persönlichkeit des Schauspielers. Inszenierung ist für ihn ein unmöglicher Begriff, er benennt für sich das „Risiko der Vorstellung“. Die Vision der Freien Komödianten ist weniger Zielvorstellung denn Arbeitshaltung: man müsse versuchen, die Wirklichkeit zu versuchen.

Wirklichkeit zu versuchen, setzte voraus, sie zu imaginieren – im Kopf des Zuschauers oder als Spiel zwischen den Akteuren auf der Bühne. Nicht immer gelingt den Freien Komödianten dieser erste Schritt. Das bislang letzte Stück, „Die Freiheit“, spricht vom Gefängnis, das die Menschen sich einander sind, solange sie zu ihrem Innersten sich nicht bekennen. Doch dem Vorgestellten fehlte zur Premiere Persönlichkeit, körperliche Wahrheit; ein kühler Hauch von Sartre, trieb die „Freiheit“ mit thesendramatischer Schlagseite in (zu) ruhige See.

Da schifft, um im Bild zu bleiben, der Wolter-Solo-Abend „Das Theater“ in bewegteren Gefilden. Kaum Holz unter den Füßen steuert Käptn Wolter das Floß der Erlebens zwischen Pleiße, Po und Saale. Da wird Wirklichkeit, was einer angeht, erzählt, versucht.

Stefan Kanis (KREUZER, Apr. 1995)

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