Die Tanzoffensive beendet eine hochanregende Theaterwoche
Das klassische Ballet hat es nicht leicht. Sein Vokabular stammt aus dem späten 19. Jahrhundert; gut möglich, dass die Nutzung seiner Sprache, wie etwa beim Esperanto, mangels Interesse erlischt und sie den Weg in die Museen antritt. Außerdem ist der Schönheitsbegriff ein Luder, er geht mit der Zeit. Etwas Erhabenes kann hundert Jahre später, einfach reproduziert, sehr leicht komisch wirken. Umso mehr, wenn es ihm an Selbstreflexion mangelt.
Doris Uhlichs Produktion „Spitze“ findet ihren, das Publikum zunehmend erheiternden Gegenstand, in dieser geschlossenen Welt aus französischen Stellungsbefehlen, Knöchelbändern und gewölbten Männerbrüsten. Susanne Kirnbauer, 1. Solotänzerin der Wiener Staatsoper im Ruhestand, zeigt dem Publikum, was Gesten sind. Warum wirkt eine Handstellung elegant? Weil die Mimik ihr diesen Platz zuweist. Kann man ‚auf Spitze’ latschen. Man kann. Die Ränge jauchzen. Harald Baruch, emeritierter Solotänzer der Volksoper, arbeitet ein Pas de deux mit imaginierter Partnerin in Parkstellung ab. Die Hände schrauben die durchsichtige Primaballerina in den Boden wie ein Bohrgestänge; der Avantgardebegriff „Biomechanik“ versteht sich plötzlich ganz handfest. Und schließlich die stämmige Doris Uhlich: Sie zittert sich mit dem bestgebauten Solotänzer durch einen Schwanenseeparcours, der ohne Worte deutlich macht, für welche Idealkörper diese Choreographien gestrickt sind. Zu fett fürs Ballett – die drei sind sich nicht zu schade, implizite Ausgrenzung, Künstlichkeit und Idealismus einer Kunstform bloßzulegen. Und rennen damit auch ein bisschen offene Türen ein.
Der Kontrast zum Abschlussabend des Festivals könnte nicht größer sein. Angela Schubots und Jared Gradingers Arbeit „What they are instead of“ hat streng genommen keinen Gegenstand. Außer ihren beiden Körpern. Zu Beginn stehen sie eng hintereinander an der Rückwand des Raumes. Vier Hände zeichnen sich scharf von der Brandmauer ab. Diese Nähe markiert für die beiden Tänzer jedoch nur einen Ausgangspunkt. Das Ziel des Selbstversuchs liegt in der völligen Auflösung des Ichs: Was könnten wir sein, statt zwei getrennte Gotteskinder. Die beiden suchen in dem, was der Sex mit dem Menschen macht, nach Antwort. Sie entleihen sich scheinbare Äußerlichkeiten, die pumpende Atmung und das Sich-Ineinanderwühlen der Körper als knappes Ausgangsmaterial ihrer Recherche. Und fernab jedes pornografischen Kopierens verbeißen sie sich ineinander, reiben sich auf, wie zwei gegenläufige Pleuelstangen unter bedingungslosem Einsatz und Auslöschung ihrer Kraft. Umso länger das Spiel fortdauert, längst sind die Kleider der beiden schweißgetränkt, offenbart sich in ihren Gesichtern Angst, Hilflosigkeit und Verzückung. Selten wurde im Theater mit solch barer Münze gezahlt. Keine Musik verschwägert Aktion und Publikum miteinander. Auf der taghell ausgeleuchteten Bühne schauen die Performer ins Weiße im Auge des Individuums. Dass sie darin das Tier entdecken, verwundert nicht. „What they are instead of“ unternimmt die verzweifelte Suche nach einem Durchschlupf ins verlorene Paradies. Schubot und Gradinger führen sie kompromisslos und durchdacht zugleich.
Das Lofft kann sich zugute halten, innerhalb einer Woche die kraftvollsten Themen des aktuellen Tanztheaters in beispielhaften Produktionen versammelt zu haben. Dass es in dieser Konzentration sogar die ausgewogene Programmformulierung der „euro-scene“ in den Schatten stellt, liegt in der Natur der Sache: Es war eine Offensive.
(Leipziger Volkszeitung, 10.05.2010)