Die Auftaktinszenierungen der „Tanzoffensive“ lassen an Charakter nichts zu wünschen übrig
Im gefalteten Programmzettel des Eröffnungsabends liegt ein Mundschutz. Weiß und unschuldig. Niemand im Publikum wird ihn benutzen, und so findet er sich am Morgen danach, clean, auf den Küchentischen und in den Jackentaschen der Besucher. Noch einmal davongekommen. Eine perfide Versöhnungsgeste der Tänzer, die die Nachwirkung der Show auf die nächsten Tage verlängert.
Am Abend zuvor deutet im LOFFT einiges darauf hin, dass das Publikum nicht so billig davonkommen wird. Es sitzt an drei Seiten um ein rechteckiges Kiesbett. An der Stirnseite vier Cowgirls und drei Boys. Wildlederklamotten, Unterhemd mit Langarm, Stiefel. Die Tänzer lassen ihr Publikum warten, tuscheln, suchen Blickkontakt, imitieren die Verlegenheitsgesten, in die sich die fixierten Besucher flüchten. Ein Warm-up, ein Vorglühen, dem die nächste Stufe folgt: Die Tiere, solche sind es nämlich möglicherweise mehr denn Menschen, strömen in die Arena. Techno, der sich nicht mit rhythmischen Feinheiten aufhält, gibt der Herde den Takt vor. Hände schießen nach oben, Hüften finden ihre Kreisbahn, Hände posieren Richtung Lustzentrum. Martin Stiefermann amalgamiert aus der Körpersprache des Rave, der Prostitution und des Splattermovies einen simplen aber leistungsfähigen Bewegungskanon.
In Varianten und Loops erobert sich dieses Wetterleuchten des Animalischen seine menschlichen Wirte und lenkt sie in anschwellenden Stufen lustvoller Destruktion gegeneinander und ins Publikum: Die Hölle, das sind immer die anderen. Figurative Momente entwickeln sich, kleine Erzählinseln, die klug verteilt, die Kämpfer individualisieren und das allgegenwärtige Bühnenmaterial des Abends, die Steine, ins Spiel bringen. Sie stieben unter den Absätzen ins Publikum, kindskopfgroße Exemplare fallen am Ende aus dem Bühnenhimmel. Steinigung und Herz aus Stein.
Stärkste Kraft entfaltet die Inszenierung jedoch außerhalb ihrer selbst: im lebhaften Zwiespalt, den sie im Zuschauer aufreißt. Die Wucht des Geschehens ist schiere Manipulation, die ‚Musik aus Strom’ verschränkt die Bewegungen der Performer überhaupt erst zu ihrer anmaßenden Direktheit. Eine Operation am offenen Herzen des Publikums: Manipuliert zu werden, es zu wissen, und sich noch am nächsten Morgen unsicher zu sein, ob man das wieder erleben möchte. Die Compagnie »MS Schrittmacher« mit „Wahllos reloaded“: Ein programmatisch angemessener, kraftvoller Auftakt vor ausverkauftem Haus.
Der folgende Sonntagnachmittag bringt ein ganz anderes Stück Theater. Ohne Wahl bleibt in diesem zehnköpfigen Ensemble niemand. Welchen Tanz ich wagen will: Das markiere ich, das performe ich, das verteidige ich. Und dann schauen wir, ob wir zusammenkommen. „W.H.A.V.T. – Wer hat Angst vor Tanz“ der Berliner Gruppe »Talking Legs«. Zu Beginn tummeln sich vier ausgebuffte Tanzprofis auf der Matte. Es ist ein bisschen so, wie wenn Irene Cara in „Fame“ behauptet: Der Busen macht die Band. Sie ist wirklich verdammt gut, aber mit dem Busen sieht es dünne aus.
Diesen ironischen Blick aktiviert Choreografin Livia Patrizi. Sie lässt ihre Sternchen ackern. Tunes, Sprünge, Bodenarbeit. Immer härter – und damit immer komischer – bis schließlich Körperbeherrschung in belachenswerten Drill übergeht. Doch es gibt hier noch andere Tänzer. „Wer hat Angst vor Tanz“ führt in der Nachfolge eines Schulprojektes Jugendliche und Tanzprofis zusammen. Die Jüngeren sind nicht nur keine Profis, sonder verweisen auf einen ‚Migrationshintergrund’. Daraus destilliert Livia Patrizi keine kulturellen Pseudowidersprüche. Die Widerhaken sind deutlich feiner. Wenn etwa Dogukan Gungor ein paar klassische Bewegungsabläufe der Profis mitvollzieht, ist der Ansatz der Hebung plötzlich um eine ungeheure Kleinigkeit spielerischer, smoother. Ein bisschen mehr sexy. Wer will, kann darin vieles sehen: Den Vorrang des Natürlichen etwa. Oder aber nur – und das ist wohl sympathischer: Dass der Körper und seine Schönheit verschiedene Gesichter hat. Das Schlussbild weist in diese Richtung: In einer Dance-Battle beginnen alle aufgerufenen Styles über eine Carmen-Adaption zu palavern. Da setzt die Streetpose das Ausrufezeichen hinter die klassische fünfte Position. Wenn der interkulturelle Dialog so etwas wie ein heiteres Herz hat, dann konnte man ihm im LOFFT für ein paar Minuten beim Schlagen zusehen.
Dem Auftakt gelingt eine Doppeloffensive, die ihren Namen verdient.
Stefan Kanis
(Leipziger Volkszeitung, 04.05.2010)