Sebastian Hartmann verstößt sein Ensemble aus der Unschuld des Kollektivs
Hamlet ersticht den guten Polonius durch die Tapete: Eine markante Aktion, für die er seine Gründe hat. Gute Gründe, die sich Schauspieler und Regie auf den Proben erarbeitet haben sollten. Nichts anderes war Theater über viele Jahrhunderte. Eine andauernde Abfolge von motivierender Situation und sekundärer Aktion. Wenn Regisseur und Spieler es zulassen, entsteht aus diesem Karussell des Reagierens nach und nach das, was gern Handlung genannt wird. Mit jeder absolvierten Situation steigt das Vorwissen des Publikums: Was noch kommt, wird verständlich vor dem Hintergrund dessen, was schon war. Theater als Exerzitien am Körper der klassischen Semiotik.
Dieses Verstehen setzt eine stillschweigende Übereinkunft voraus. Eine Übereinkunft zwischen Bühne und Parkett über das, was als angemessene oder doch zumindest verstehbare Reaktion der Schauspieler auf eine Bühnensituation gilt. Das Ergebnis solcher Übereinkunft ist ein kumulativer Realismus.
Wenn in Sebastian Hartmanns Inszenierung von „Paris Texas“ Maximilian Brauer immer wieder mit Fetzen des „Erlkönigs“ im Munde über die Bühne jagt, stehen diese Aktionen quer zur Abfolge der szenischen Situationen. Sie haben zwar keinen abgesicherten Bedeutungsraum geschaffen, aber doch Linien des Begreifens erzeugt. In diesem Begreifen stehen die Konturen der Figuren gleichwertig neben der atmosphärischen Imagination komplexerer Erfahrungen: wie dem Verlust des Zeitgefühls etwa, als Folge und Wert des schieren, endlosen Wartens in der texanischen Wüste. Hartmann verlässt sich bei der Umsetzung dieser anspruchsvollen erzählerischen Ziele nur zum geringeren Teil auf konkrete Figuren und deren fiktiv-realistisches Bühnenleben. Er gehört, mit anderen auch, zu den Gefolgsmännern des Ereignisses. Das Ereignis: eine von Heidegger et al. zur Rettung des Unmittelbaren (zu Recht) in Stellung gebrachtes Hochhalten des energetischen Werts einer Aktion. Jedes Geschehen auf der Bühne, jeder Satz, jeder Schritt ist ja nicht nur Zeichen für etwas, führt nicht nur auf eine Bedeutung hin, sondern ist ja auch selbst etwas, er geschieht. Wenn sich – wiederum Maximillian Brauer – im „Kirschgarten“ eine Orgie des Malträtierens seines Körpers an Tisch und Shiguli-Tür leistet, dann ist das im ursprünglichen Wortsinne: ein Ereignis. Hartmann hat die Bedeutung der Eigenkreativität des Performers explizit hervorgehoben, und gegen die nachvollziehende Entwicklung einer Figur aus einem vorgängigen Text gesetzt. (TdZ 11/2009)
Die ästhetischen Debatten der letzten Jahrzehnte widmeten diesen Vektoren – Präsenz, Materialität, Ereignis, Plötzlichkeit, Rauheit – ein Gutteil ihrer Aufmerksamkeit. Mit dem Anschluss an diese Positionen kommen Hartmanns Arbeiten gewissermaßen angenehm gestrig daher. Sie sind missionarisch in einem ursprünglich marxistischen Sinne. Man meint aus ihnen zu lernen, dass die Welt verändert werden kann. Und: Dass diese Veränderung auf der Theaterbühne unmittelbar einsetzt, sie auf der Bühne ihren absoluten Ort hat, auf ihr nicht etwas Drittes für ein politisches Draußen erprobt wird. Um das Bonmot nicht zu scheuen: Während Arbeiten des kumulativen Realismus die Welt immer nur neu interpretieren, geht es Hartmann um substantielle Veränderung in genau jenem Raum, auf den er Zugriff hat: dem Theater.
Das zeigt einige notwendige Folgeerscheinungen. Ein radikaler Subjektivismus ist darunter der Auffälligste. Zum einen greift er in den kollektiven Körper des Ensembles ein. Die Schauspielerin Ellen Hellwig, mit 64 hat sie ein Engagement bei Hartmann aufgegeben, beschrieb diese Defizite kürzlich im Leipziger Magazin KREUZER (08/2010). Wo dem performativen Akt, wenn man will: der Personality des Einzelnen, das Primat eingeräumt wird, erodiert über die Verständigung auf einen Gruppenausdruck auch der ‚soziale Körper’ Theater. Hartmanns bildnerisches Motto vom Traum im Traum greift aufs Ganze über: Die Atomisierung des sozialen Körpers des Ensembles folgt den Realitätsbrüchen der Bühnenentwürfe.
Auf einen radikalen Subjektivismus dieser Prägung muss – nicht zuletzt – auch das Publikum gestimmt sein. Nicht nur in der Provinz ordnet es diese Positionen überwiegend den freien Künsten, der Malerei zumal, und wo erlebbar: der Performance zu. Der Begriff der Darstellenden Kunst, in Fachzirkeln fast ein Schimpfwort, wird hier, ohne ausgesprochen zu werden, von großen Teilen des Publikums umso mehr gemeint und erwartet: Die immer wiederkehrende Neuinterpretation der Lebenswelten zwischen Tschechow und von Meyenburg wird nicht nur im Abonnement zum selbstreferentiellen Vergnügen. Politisch und sozial ohne Belang – weil, trotz anderslautender Behauptung, nur auf das Eigensystem Theater bezogen – verselbständigt sich die Bewunderung des Parketts für schauspielerische Raffinesse, postmoderne Farbigkeit oder analytischer Tiefe zur Liebhaberei.
Dass Hartmann und Freunde gegen solchen Salonstoff antreten wollen ist nachvollziehbar. Für die Diskussion der künstlerischen Ergebnisse bleibt der performative Subjektivismus hartmannscher Prägung jedoch nicht ohne Folgen. Es ist wenig hilfreich, in seinem „Kirschgarten“ über Spannungsentwicklung, Figurenkonzeption, Konfliktverhältnisse oder gar Abbildcharakter sprechen zu wollen. Zur Diskussion steht letztlich der performative Akt selbst, und in dessen Folge: Traumdeutung. Zumindest im Hinblick auf ersteres übergibt Hartmann seinen Schauspielern nicht nur mehr Verantwortung, er entzieht ihnen auch ein Stück weit die Deckung des Darstellens. Hier ist einmal mehr Walter Benjamin Satz über den Zirkus am Platze: Es könne im Theater wohl vorkommen, dass just in dem Moment, da Hamlet den Polonius ersticht, jemanden seinen Nachbarn um das Programmheft bitte; dasselbe sei aber im Zirkus unvorstellbar, wenn der Artist unter Zeltkuppel den doppelten Salto schlage.
Hartmanns Performer sind Brüder jener Zirkusartisten, die als Solisten und Handwerker ihrer selbst eine Situation aufbauen, die erzählerisch leer ist. Die Prüfung auf die unmittelbare Beherrschung einer Sonderbegabung unter Einsatz von Leben und Gesundheit braucht, um zu wirken, keinen vermittelnden Überbau. Hartmanns Performer müssen häufig ebenso, als seien sie Artisten, ohne erzählerische Deckung auskommen. Den Thrill des Zirkus können sie jedoch nicht bieten. Manege und Bühne liegen noch immer weit auseinander. Das Wissen darum fährt Ihnen in Körper und Stimme. Die Befürchtung, noch zu wenig zu tun, drängt in die Affekte. Generalisierend gesprochen: Die Hartmannschen Performer befinden sich fortwährend in einem Wettkampf um situative Aufmerksamkeit. Die in Besprechungen hin und wieder geäußerte Kritik, seine Inszenierungen seien Nummernprogramme, berührt mehr den notwendigen Kern eines schauspielerischen Verfahrens als den einer inszenatorischen Haltung.
Diese Last ist nicht jeder Akteur bereit zu tragen. Zumal ihr Ertrag ungewiss ist. Hartmanns Inszenierungen realisieren sich – ihrem Kern nach – notwendig als Freakshow. Der Totalitarismus wird vom äußeren Zwang zum inneren und nistet als subjektive Norm und Arbeitsvoraussetzung in jedem Darsteller seiner selbst.
Das ist wahrlich eine andere Welt, ob es eine befreite sein kann, bleibt offen.