Hinter den Ohren schreiben

Notiz zu: „Nackter Wahnsinn – Was ihr wollt“ am Centraltheater Leipzig

Dieser Abend gewinnt seine Kraft (wieder einmal) aus dem existentiellen Einsatz zweier Schauspieler – Maximilian Brauer und Cordelia Wege. Es braucht bis dahin drei Stunden, die es nicht braucht – und doch wieder braucht. Wenn Brauer sich im Schweiße seines nackten Antlitzes/Körpers mit dem Regisseur dieses Theaters auf dem Theater (Manuel Harder), der hier nun endlich Gott sein darf, einen letzten Kampf liefert, dann ist dies wahrlich ein phänomenaler Disput über die Zurechnungsfähigkeit der Kunst & der in ihr Lebenden.

Den Vertrag zwischen sich und seiner Rolle will er aufkündigen; Brauer führt dieses Drama als leibhaftiger Jesus auf, frisst Scheiße, die er zu Gold machen will/soll. Dann assistiert ihm Cordelia Wege als Natascha Kampusch, auch sie mag kein Opfer sein, auch ihre Rolle will sie sich selber suchen. Der Teufel (Hagen Oechel) segnet ihren Aufbruch in die Gottlosigkeit des Selbst mit – natürlich Litern Theaterblut.

Mag sein, dass es für diesen späten Höhepunkt den dramaturgischen Dilettantismus des bis dato Geschehenen braucht, der dem Publikum ebenso eine Rolle zuweist. Dass erst die Erschöpfung, die sich breit macht, wenn sich bis zur Pause ein Kabinett von Witzfiguren papierne Späße liefert, die notwendige Fallhöhe fürs Finale erzeugt. Artemis Chalkidou ausländisch sprachfuchtelnder Experte für Nichts, den man lange für einen fehlbesetzten Theaterarzt hält; der sich andienernde Inspizient/Assistent (Matthias Hummitzsch); die Souffleuse, die letzte Stütze des genervten Regisseurs; die selbstgerechte Diva. Wie in einem taumelndem, in vielerlei Richtung unentschlossenem Versuch wähnt man sich: die holprigen Späße, das fehlende Timing, die witzelnde Belanglosigkeit. Sicher, Thomas Lawinky verankert den Dramaturgen, der endlich einmal Autor sein darf, schon griffiger. Wäre das Ensemble, so sagt er – und darf seinem befreundeten Regisseur wohl nicht sagen: wärst du so schlecht – so sagt er zart zum Ensemble: wärt ihr nicht so schlecht, mein Stück hätte das Zeug zum Theatertreffen. An dieser Stelle geht das als die x-te Theaterkoketterie durch, ein besserer Scherz aus dem Milieu, wie man bis zu dieser Minute schon etliche dürftigere vernommen hat. Erst weit nach der Pause wird klar, wie Recht er damit hat.

Vom Ego des missverstandenen Künstlers, die Nichtverlängerung des Hartmann-Vertrages durch ihn selbst gibt hier den Generalbass, hebt der Abend doch auf das Entsetzliche ab, das im Jenseits der Hedda Gablers, der Violas und Gretchens rumort. Eine schöne und spielerisch ergiebige Spiegelmetapher bereitet schließlich in einer agilen Szene um den Verkörperungswahnsinn, der in der Praxis eine Entkörperung/Zerseelung des Schauspielers fordert, die Eskalation der Rollenverhältnisse schon vor. Harder suhlt sich mit pseudointensivem Regisseurs-Sprech auf den Lippen in der Soße seiner menschlichen Werkzeuge vor einem Requisit gewordenen Spiegel der Egomanie.
Und dann tritt das reinigende Gewitter um Brauer/Wege/Hartmann (und einen Esel) ein. Und erledigt die wohl nicht zustande gekommene Hermann-Nitsch-Show am Centraltheater gleich mit.

Wieder wollen Sie alle unter die Sohle des Kothurns schauen, als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt. Kann sein. Ein Theater, das hinter den Ohren schreibt und zwischen den Augen pflügt. Drei Stunden lang trauen sie sich nicht, aber dann.

PS: In Hartmanns Theater muss, das weiß man mittlerweile, alles zu 100% durch die Poren des Schauspielers. In diesem Schweißstrom bleibt von den Figuren, vom Text, von der ganzen schnöden normal-künstlerischen Realität nicht viel übrig. Von der außerkünsterlischen ganz zu schweigen. Lawinky nennt es an diesem Abend, ganz zart, den geistigen Raum, den man aufrichten wolle. Und es ist tatsächlich ein Traumtänzerland in das sich der Beifall am Premierenabend ergießt. Weit genug weg von allen Anfechtungen des Alltags, die des Bühnenalltags eingeschlossen. Man wünscht Ihnen irgendwie Glück damit, wie Kindern.

(Stefan Kanis)

Nackter Wahnsinn – Was ihr wollt | R: Sebastian Hartmann | Mit Cordelia Wege, Maximilian Brauer, Manuel Harder u.a. | Centraltheater Leipzig | Premiere: 19.11.2011

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