PSALM ♦ aus der tieffen

Unbehauste Glaubensfragen

»PSALM / aus der tieffen« – Ausschnitt

Inga Busch und Birte Schnöink (v.l.) (Foto: MDR/O.Parusel)PSALM ♦ aus der Tieffen von Ruth Johanna Benrath Mit Inga Busch, Birte Schnöink und Ulrich Noethen Musik Dietrich Petzold
Ton Holger König und Dietrich Petzold Schnitt Christian Grund Redaktion und Regie Stefan Kanis  Ursendung MDR Kultur, 23.05.2022

Inhalt | Presse

Vor 500 Jahren hat Martin Luther die Bibel ins Deutsche übertragen. Besonderes Augenmerk richtete der Theologe auf das Buch der Psalmen: „Wilstu die heiligen Christlichen Kirchen gemalet sehen mit lebendiger Farbe vnd gestalt / in einem kleinen Bilde gefasset / So nim den Psalter fur dich / so hastu einen feinen / hellen / reinen / Spiegel / der dir zeigen wird / was die Christenheit sey“. Ein halbes Jahrtausend später liest die Lyrikerin Ruth Johanna Benrath diese Spiegelbilder von Luthers Lebensende her: „Luthers letzte Sätze / fuchtelnde Handbewegungen über der Bettdecke / Seraphim, Cherubim / sammeln sich in der Zimmerecke“. Der Mund ist trocken, die Zunge steht in Flammen.
Doch was ist geleistet, was ist erkannt? Wer kann den göttlichen Weg, diese «Irrfahrt», verstehen, wer sie ohne Anmaßung in Worte fassen? Luthers Bilanz heißt: Demut. Eine Schlussfolgerung, die Benrath nur bedingt ins Heute verlängern will. Sich den Tonarten der Psalmen – Klage und Lobpreisung – anschmiegend sucht sie eine hinreichend brauchbare Position in der unbehausten Gegenwart: „Der Mensch ein Strich / in der Landschaft ein Punkt / ein Strichpunkt / ich / Pünktchen / Handschrift Gottes / Luft zwischen den Buchstaben / Atem“.Wie kann ein Transfer von Sinn und Übersinn in Sprache gelingen? Hatte Luther in der Übertragung aus dem Lateinischen vor allem die Übersetzung des Spirituellen, des Transzendenten, des Glaubens in den gelebten Alltag gesucht, so stärkt die Autorin in der Auseinandersetzung mit Luthers Schriften dem gegenwärtigen Ich, dem „Strich in der Landschaft“ den Rücken: „Schreiben heißt / Rütteln am Firmament / sich aus Trotz über den Rand des Universums lehnen.“ Durch das Hörstück zieht die Frage, wie wir uns das Dasein tagtäglich übersetzen, uns ins Leben setzen.

Ruth Johanna Benrath (*1966 in Heidelberg) schreibt Gedichte, Romane, Hörspiele und Theatertexte, konzipiert Audio-Walks und ist Teil des Text-und-Klang-Duos „Gezinkte Sterne“. Sie promovierte nach einem Studium der Germanistik, Philosophie und Geschichte 2004 über das Selbstverständnis von Geschichtslehrkräften aus der DDR vor und nach 1989. Ihr Hörspiel „Geh Dicht Dichtig!“ wurde von der Jury der DADK zum „Hörspiel des Jahres 2019“ gewählt. Sie erhielt zahlreiche Preise und Stipendien, darunter den Münchner Lyrikpreis 2021 für „PSALM / aus der tieffen“. Der MDR produzierte zuletzt ihr Hörstück: „BLUME WOLKE VOGEL FISCH“ (2021).

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»… Wie sich das Buch der Psalmen ansatzweise in unsere Zeit transferieren lässt, das führt nun das von Stefan Kanis für den MDR-Hörfunk realisierte Hörspiel „Psalm / aus der tieffen“ vor. Es stützt sich auf eine grandios poetische, tiefgründige und doch ganz unangestrengt wirkende Vorlage, für die die Autorin Ruth Johanna Benrath bereits mit dem Münchner Lyrikpreis 2021 ausgezeichnet worden ist. Doch erst die Hörfassung aber darf wohl als die ultimative, die den Psalmen am meisten angemessene Umsetzung des Benrath’schen Langgedichts gelten. Sie wird musikalisch nach einer Komposition von Dietrich Petzold von Saiteninstrumenten untermalt und von drei betörenden Stimmen – Inga Busch, Birte Schnöink und Ulrich Noethen – vorgetragen.
Ganz aus der Gegenwart heraus sind die drängenden, suchenden, brennenden Zeilen dieses neuen Psalters geschrieben, sogar ein wenig umgangssprachlich oft: „Himmel im Dauergrau/ jeder Tag ein Sarg/ Zeitplan sowieso ausm Ruder“. Wir treffen moderne Gottsuchende an, allnächtlich nach dem großen Sinn Fragende („wachgelegen“; „in meinem Ohr ein Brausen“), Zweiflerinnen auch, ein wenig verlorene Menschen allesamt, für die Gott zunächst einmal ein Bild ist, eine Verheißung „in Michelangelos Finger“, aber gerade wegen dieses weltbekannten Fingers kommt die Berührung zunächst nicht zustande. Gott als Lücke im Dasein: „Luft zwischen den Buchstaben“. Als „Strich / in der Landschaft / ein Punkt / ein Strichpunkt“ erscheinen den über das Universum und ihre Rolle darin Nachdenkenden. (…)

Dass die in zwei Richtungen lesbare Bezugnahme – mit Luthers Hilfestellung in der transzendental obdachlosen Gegenwart bestehen oder im heutigen Duktus in Luthers Denken und Fühlen eintauchen – von ganz allein zur Sprache zurückführt, verschleift die auf einer höheren Abstraktionsebene in Ruth Johanna Benraths Poem ebenfalls enthaltene dichterische Selbstreflexion äußerst elegant mit dem
psalmierenden Text. Ganz ohne Bruch kann die Autorin also darüber nachdenken, was eigentlich „das Schöne am Schreiben“ ist. Und sie kommt auf eine bezaubernde Antwort: „das Ohr anlegen an den Mund der Schöpfung / klitzekleines Ohr / riesiger Mund / dann selbst ein Mund
sein“. (…) Ihr neuer Psalter läuft auf eine lebendige Frömmigkeit der Sprache hinaus…« 
(Oliver Jungen, KNA vom 02.06.22)

 

»A, B und C. So heißen die drei Figuren in Ruth Johanna Benraths Hörspiel PSALM / aus der tieffen.
Wobei: Figuren ist schon zu viel gesagt. Drei Stimmen sind es, das ist treffender. Die von Inga
Busch, Birte Schnöink und Ulrich Noethen. Zusammen sind die drei Schauspieler in diesem Stück
das Kollektiv ABC. Aber auch wenn das ein Synonym ist: Diese drei Buchstaben machen noch
kein Alphabet.
Benrath erzählt in ihrem Hörspiel, welches Stefan Kanis für den MDR inszeniert hat, von einem
verzweifelten Ringen – nach Sinn, nach Spuren des Göttlichen. Aber nicht nur das Fassungs-, auch
das menschliche Ausdrucksvermögen ist zu gering, als dass es zu einer tieferen Erkenntnis käme,
die sich auch noch mitteilen ließe. A, B und C stehen insofern für die Vergeblichkeit, das Ganze zu
fassen. Schon gar nicht in Worte.
Alte Texte zu überschreiben, Gedanken weiterzudenken und neu zu sortieren, sich dabei immer
tiefer in deren Poesie hineinzugraben: Das ist die Spezialität von Ruth Johann Benrath. Diesmal ist
es der Luther’sche Kosmos, seine Bibelübersetzung speziell der Psalmen sowie seine Glaubenszweifel,
die sie mit ihrem eigenen literarischen Ausdruck verdichtet zu einer Art, ja: elegischem
Psalm, einer Mischung aus Gedicht, Lied und Gebet. Randvoll mit Zweifeln.
Die Suche nach einem lebendigen Gott findet hier nicht vor der Kulisse einer aufgeklärten, säkularen, rationalistischen Gegenwart statt. Sondern ist archaischer Natur, dem Menschen immanent.
Und doch ist etwas passiert seit Luther: Die Skepsis hat sich vergrößert. Auch die Enttäuschung
und die Wut darüber, nach wie vor im Dunkeln zu tappen. „Ich habe mich müde geschrien auf der
Suche nach einer Sprache, die funktioniert“, sagt eine der Stimmen gegen Ende. Dabei schreit hier
niemand. A, B und C türmen nur unablässig Fragen aufeinander. Auf die es jedoch keine verlässlichen
Antworten gibt. Dann lieber Schluss mit der Transzendenz und der dringende Wunsch:
„Kannst du mich bitte loslassen!“ Er verhallt wie alle Fragen auch.
PSALM / aus der tieffen weist deutlich über die religiöse oder gar nur christliche Ebene der Thematik
hinaus. Verhandelt wird grundsätzlich und auf sehr elegante Weise das Selbstverständnis des
Menschen, das Fundament seiner geistigen Existenz. Oder, mit einem anderen Wort: seine Identität.« (Stefan Fischer, Süddeutsche Zeitung vom 19.05.22)

 

 

 

 

 

 

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