„March“ hat Schwierigkeiten mit der Grammatik des Tanzes
Im Programmheft-Opener zur diesjährigen Tanzoffensive im LOFFT taucht das Wort „Geschichten“ stolze fünfmal auf. Geschichten von Gewicht will man erzählen, auch die jüngere Geschichte, und die eigenen allemal. Bitte keine Unverbindlichkeiten mehr. Vorbei die Zeit tänzerischer Selbstbezüglichkeit. Wenn alle aufstehen gegen die Verhältnisse, dann sitzt auch der Tanz mit im Bollerwagen.
Bei soviel Mitteilungswut regt sich Skepsis. Sicher, man muss nicht gleich an erzählendes Tanztheater denken, wie es einem weiland im Beyerhaus seine eindimensionalen Schrecken einflößte. Aber: Kunst und Leben tun gut daran, sich voneinander fernzuhalten und sich gegenseitig mit dem Fernrohr zu beobachten. Am besten mit einem alten, wo das Bild auf dem Kopf steht. Aus dieser Spiegelung offene, eindringliche und differenzierte ‚Geschichten’ für Publikum zu machen, die man, weil sie Kunst sind, nicht wirklich nacherzählen kann: Das, ungefähr, wäre zu leisten. Das Kuratorenteam im LOFFT hängt die Latte hoch.
Der dritte Abend des Festivals bekommt, an diesem Anspruch gemessen, nicht genügend Luft unter die Flügel. Die serbisch-niederländische Koproduktion „March“ beginnt tastend. Eine Frau, kahler Kopf, die Brüste nur mit zwei Flecken schwarzem Tape versiegelt, zieht Rückkopplungen aus einer E-Gitarre. Über einen Betonwall aus Bühnenholz schieben sich Figuren in bürgerlichem Outfit. Drei Bürgersöhne? Eine Managerin? Opfer? Schuldige? Das eine schließt das andere nicht aus. Die handgemachten musikalischen Impulse werden von einem Einspiel aus der Konserve überlagert, später öffnet sich der Sperrholzberg und gibt ein Schlagzeug frei. Während einer der Akteure auf ihm simple Tonfolgen spielt, dreht sich vorn das restliche Personal in mehr oder minder spannungslosen Turns am Boden. Eine Regisseursfigur krampft sich durch Wortberge einer Inszenierungsstrategie, die Managerin befürchtet/erhofft den kommenden Aufstand. Wenn schließlich Megaphon und Gasmasken zum Einsatz kommen, scheint – zumindest für die westeuropäische Erzähltradition – die Grenze dessen erreicht, was Requisiten zu Kunst und Spiel beitragen können: Das Leid hat im Theater dann doch einen individuelleren Zugriff auf seinen Darsteller nötig. Ansätze eines physisch übermittelten Schreckens zeigen sich vor allem in einer Figur: Zweimal greifen Tänzer nach dem kahlgeschorenen Kopf der Spielmeisterin (auratisch-eindringlich: Miryam Garcia Mariblanca) und dirigieren sie über die Bühne. Die Energie kehrt sich plötzlich um und die Welt steht Kopf. Denkbar, dass dies alles, das ganze Aggressionstheater, nur in ihrem Schädel stattfindet. Und wenn es so wäre: zu wenig bleibt es in jedem Fall. Die Choreographie von Jelena Kostić verdichtet kaum; das wäre zu verschmerzen, wenn nicht zu vieles an diesem Abend – Kostüm, Musik, Bühne, Sprache – wie in einem Thesenpapier nebeneinander stünde, als dass es sich gegenseitig bedingte. Zieht man selbst die Irritation der Performer durch kleine technische Probleme und den ungewohnten Spielort ab: Diese Geschichte weiß vielleicht, was sie dem Publikum erzählen will, aber es fehlt ihr eine zwingende Grammatik.
(Leipziger Volkszeitung, 11.05.2012)