Am Nullpunkt des Darstellens

Susann Maria Hempels Hörstück „Auf der Suche nach den verlorenen Seelenatomen“

[Link zum Audio]

Susann Maria Hempels “Auf der Suche nach den verlorenen Seelenatomen” (Produktion: rbb 2018) gewinnt den „Hörspielpreis der Kriegsblinden“ 2019, es trägt die Auszeichnung „Hörspiel des Jahres“ 2018 der Akademie für Darstellenden Kunst. Hempels Hörstück scheint in seltener Weise nur in seiner aufgeführten Form überhaupt möglich zu sein.

Bemerkenswert ist die Gleichzeitigkeit von Inkorporation des / Distanz zum Gegenstand. Der „Gegenstand“ ist die Geschichte eines Outcasts, eines Geschädigten, eines stillen Unangepassten, der in der DDR eine unmenschliche Haftzeit überstehen musste; der vor und nach der Haft eine Urkraft im Leben mit und in der Natur sucht. Hempel gewinnt ihren Stoff aus Gesprächen mit dieser realen Person.

Inkorporation: Die Unmittelbarkeit, mit der sich Hempel ihrem Gegenüber aussetzt – aber nicht ausliefert. Das Aussetzen realisiert sich im suggestiv-performanten Nachvollzug ihrer Gespräche mit dem Outcast. Der Clou ist die hochartistische Auflösung des Erzählvorgangs. Die Rekonstruktion der akustischen Physiognomie verfährt sehr präzise: dialektale Eigenheiten, Prosodie, Sprach- und Textfindungshemmungen ihres Gesprächspartners führt Hempel in beeindruckender Präzision auf. Sie führt sie auf, stellt sie nicht nach. Dabei erledigt sie alle Verkörperungsbemühungen der klassischen Schauspielkunst – und deren häufiges Scheitern – gleich mit. Hempels Sprechen ist ein verdichtendes Zeigen, das sich zur gleichen Zeit in ihren Gegenstand fallen lässt. Es gelingt eine unmittelbare emotionale Zuwendung, sie speist sich aus der Energie, die Hempel Sekunde für Sekunde aufwendet, die in ihrer künstlerischen Meisterschaft lebt, eine Hörstunde aus kleinsten Binnendifferenzierungen eines klar begrenzten Material- und Formendepots zu entwerfen. In selbstloser, aber nicht selbstvergessener Atemlosigkeit erzeugt sie im Sprechen einen suggestiven Strudel aus zwingenden Rhythmisierungen und Dopplungen, die sie in Momenten der wörtlichen Rede mit ihrem kongenialen Toningenieur in scheinbar simplen aber artifiziellen Hallräumen filtert, spiegelt und auffaltet. Dies alles in geradezu eleganter Zwiesprache mit den genuinen musikalischen Mitteln, ihrem Gesang, den markant verfremdeten Vogelstimmen. 

Distanz: Darstellungspolitisch gesprochen hinterfragt Hempel die latente, uneingestandene (und notwendige) Anmaßung, die in jeder journalistischen Bearbeitung von Wirklichkeit steckt. Die Inbesitznahme des Stoffes wird bei Hempel nie verheimlicht. Ihr Stück ist ein seltenes Beispiel der Annäherung an den Nullpunkt der Darstellung, vor dem Kampfbegriffe wie etwa Authentizität völlig verblassen. „Denn das Schöne ist das mögliche Ende der Schrecken.“
Ihr Ringen, im Stoff nicht unterzugehen, ihn auf höchstem Niveau zu rehabilitieren – zugleich intimste und entschlossenste Gestaltgebung – ist Kraftquelle und Menschlichkeit dieser Arbeit.

Dieser Beitrag wurde unter Allfälliges abgelegt und mit verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.