Der Sommerspielplan des Westwerks punktet mit Mascha-Kaléko-Abend
Die Karl-Heine-Straße, gegen halb zehn abends. Vorm „Noch besser Leben“ sitzt die Jugend auf der Straße. Ein älterer Knabe spricht übers Bier hinweg einer spröden Schönheit ins Gesicht. Er finde Goethe trocken. Seine Miene ist bedeutungsvoll – die Schöne nickt. Sie mag den Knaben wirklich gern, also stimmt sie ihm zu, obwohl sie „Wanderers Nachtlied“ für gelungen hält. Denn auch der beste Sommer zählt nur ein paar wirklich gute Augenblicke – und die gilt es zu nutzen. Und nun kommt der Kaléko-Moment: Die Schöne kann sich nicht entscheiden, ob sie sich für diese reflexive Präzision tadeln oder loben soll.
Natürlich haben die beiden nicht über Goethe gesprochen. Aber drei Blocks entfernt und zehn Minuten vorher hatte sich Friederike Ziegler gerade ihren Beifall abgeholt. Unter anderem für ein Großstadtszene, in der eine junge Frau ihrem eventuell Zukünftigen sein Goethe-Geschwafel durchgehen lässt. Und danach sieht man die Stadt durch die Kaléko-Brille.
Ein Kleid, ein Hut, ein Hocker. Mit nahezu nichts befreit die Ziegler die Kaléko aus der Literaturgeschichte. Das geschieht in Deutschland zwar regelmäßig – Mascha Kaléko, die kühle Bardame der „Neuen Sachlichkeit“, gehört als Zeitgenossin von Brecht und Kästner zu den am häufigsten wiederentdeckten Schriftstellerinnen. Schön, das hier vieles gelingt. Das beginnt beim Raum. Unter dem abgeranzten Schleppdach, der Sommerspielstätte des Theaterpacks, tritt die Großstadt ins Bild, mit ihren zufälligen Zumutungen, all den Tönen und Bildern, die sich nicht befehlen lassen, schön zu sein. Die leichte, sparsame Inszenierung muss nicht gegen Theaterwände anspielen. Die Ziegler und ihr Komponist, Siegfried von der Heide, lehnen eben noch an der Bar, dann sind sie schon auf der flachen Bühne und das Geschäft beginnt. Es ist das Geschäft des Lebens in der Großstadt, es ist ein Sonntag-Abend. Zwischen dem ‚vielleicht noch einmal Raus aus dem möblierten Zimmer’ – es lockt die Lichtwerbung des Kintopps, die Garbo – und dem Blick auf den folgenden Montag, entwirft die Ziegler eine authentische Städtebewohnerin. Mit einer Kopfbewegung ruft sie neue Personen, Stimmungen, Perspektiven auf: Die Nebenschönheit auf dem selben Bahnsteig etwa, die ihre blaue Kappe so lächerlich modisch trägt.
Friederike Ziegler verlässt sich – zu Recht – auf die Klarheit ihres Auftritts, der leichthin, fast keck erschafft, wovon gesprochen wird. Da stört es kaum, dass der zweite Teil des Abends zur Premiere nur im Rohbau zu besichtigen ist. Improvisation passt ins Bild. Sie zügelt das Sentimentale, das Mascha Kaléko in ihren Gedichten vorführt; es weht nur heran, es kann sich nicht niederlassen. Und Traurigkeit bekommt nur jenen Moment eingeräumt, den ein Kognak vom Mund bis in den Magen braucht. Davon bleibt unterm Schleppdach nur ein Duft zurück.
Auf dem Nachhauseweg liest man im Gesicht der spröden Schönheit auf dem Freisitz einen Kaléko-Vers: „Mir ist zuweilen so als ob / das Herz in mir zerbrach. / Ich habe manchmal Heimweh / Ich weiß nur nicht wonach.“
(Leipziger Volkszeitung, 14.07.2010)