„Friendly fire“ zeigen eine Doppelpremiere im Tapetenwerk / Lofft
Der junge Mann am Einlass begrüßt das Publikum zur Uraufführung. Ein netter Versprecher. Denn kein Heiner-Müller-Text ist häufiger choreographiert, zelebriert, performt oder auch nur schlicht gesprochen worden als „Bildbeschreibung“. Zu Recht. „Friendly fire“, eine Fraktion der rührigen „Lofft-Werkstatt“, ist der 1984 entstandenen Skizze am Montagabend nun wieder nähergetreten. Was kann Texten besseres geschehen als Interesse.
Müller beschreibt ein Bild, bevölkert von unsteten Figuren. Ein Mann tritt aus einem Haus und hat es abgesehen auf eine Frau. Doch möglicherweise sieht er von ihr ab, wendet den Blick und sie kommt mit dem Leben davon. Doch wer garantiert dem Betrachter, dass die Frau nicht bereits schon tot ist, ihr Körper geborgt aus „dem Fundus der Friedhöfe“. Ein Messer wird gezückt, vielleicht, und der Körper der fallenden Frau stößt den Kelch mit der dunkelroten Flüssigkeit vom Tisch, möglicherweise. Jeder Satz ist hier Strafanzeige oder Wunschbild, in der Regel beides. Müller zieht sämtliche Gewissheiten über das So-Sein der Dinge in den Malstrom ihrer eigenen Geschichtlichkeit. Auch in dieser Fingerübung ist er ein Dialektiker der Konfrontation, der der Welt ihre kleinen Freundlichkeiten nicht abnimmt.
Die Performer bitten ihr Publikum im Leipziger Tapetenwerk in eine gesäuberte Versuchsanordnung vor weißen Wänden. In zwei Linien steht man sich gegenüber, aus Kopfhörern tönen die Stimmen der Sprecher, es geht in Bruchstücken durch den Text. Die Darsteller erscheinen, bewegen sich durch den Raum; der Sprachgestus streift den vertrauten Müller-Sound: sich vor sich selbst schützende Eindringlichkeit bei sparsamer Dynamik. Der ideale Flaneur in dieser Textlandschaft ist der Fachmann, der seine Partitur kennt und die dezent markierten Überblendungen zwischen den Darstellern zu würdigen weiß. Später, zarter Höhepunkt: Eine Sprechfuge, die einen knappen Satzhaufen in seine Bestandteile zerlegt, und endlich den Eigensinn der Akteure gegen die Gravitation der Müllerschen Kaskaden behauptet. „Die Rohheit des Entwurfs ist Ausdruck der Verachtung für die Versuchstiere Mann, Vogel, Frau“, heißt es bei Müller. Mehr Rohheit im Umgang mit sich und dem Publikum, mehr Ver-/Achtung für den Text, hätte der sauber gedachten Arbeit kaum schaden können.
An Selbstbehauptung gegenüber dem Material mangelt es dem zweiten Teil der Doppelpremiere, „Invisible Orange“, absolut nicht. Swaantje Lena Kleff und Melanie Albrecht pusseln sich auf der Werkstattbühne des „Lofft“ durch die Biografie eines Menschen, den auch Heiner Müller benutzt haben könnte, als Material. Jon Kristiansen alias „Metalion“ dürfte unter Metal-Fans so berühmt sein wie Müller unter Lesern. Nur dreht der Duktus in Richtung Trash. Die beiden Performerinnen ziehen anhand Kleffs eigener Jugend im norddeutschen Misburg saftige Parallelen zum Coming-of-Black-Metal in der norwegischen Provinz. Mit dabei die üblichen Verdächtigen: Videokamera, Kinderfotos, Requisitentisch und Das-spiel-ich-dir-mal-kurz-vor-Attitüde. Wiewohl nun schon Gott und die halbe Welt landauf, landab in semidokumentarischen Life-Art-Spektakeln durch alle Kontexte geschleudert wurden, überzeugen die beiden über weite Strecken durch Nähe zum Gegenstand. Das Schaubild aus Teufeln, Jahreszahlen, Kruzifixen, Verweispfeilen und Pickelhaut, das die agile, rampentaugliche Kleff zu den Entwicklungsetappen des Metal skizziert, ruft selbst nach einer Bildbeschreibung. Möglicher Theoriegeruch verweht in dieser robust überartikulierten Show. Rast, Scham und Reue sind freilich Begriffe, mit denen dieses wahrlich junge Theater noch nichts anfangen kann. Aber alles hat seine Zeit im Malstrom der Geschichte.
(Leipziger Volkszeitung vom 25.01.12)