Mal sehen, was noch kommt

Moderne „Alice“ im blassen Spiegel

Alice hat es gut. Jeder Schritt, den sie tut, führt sie voran. Die bekannteste Kinderbuchfigur der angelsächsischen Welt kennt keinen Schrecken, obwohl sie doch dauernd ihr Leben riskiert. Sie dehnt sich aus, füllt im Handumdrehen ganze Häuser, ihr Kopf schießt an ein einem ewig langen Hals empor und die Herzkönigin will sie köpfen. Doch für Alice geht es immer weiter. Am Ende, wenn es brenzlig wird und ihr die Spielkarten um die Ohren fliegen, wacht sie einfach auf. Der Traum ist aus und die ältere Schwester gibt ihr einen Kuss. Dem Mutigen gehört die Welt. Und sei es nur im Schlaf.

Die Zahl der Anhänger des taffen Mädchens ist Legion; Wikipedia verzeichnet quer durch alle Kunstgattungen dutzende Bearbeitungen, Adaptionen und Übermalungen. Die Dresdner Compagnie „Go Plastic“ fügte dem Alice-Rhizom am Donnerstagabend im LOFFT nun eine weitere Luftwurzel in 12 Teilen hinzu: „Mit Alice in den Städten“.

Vom Publikum gesehen links läutet eine schwarze Königin die spekulative Landvermessung ein. Im allerdings nicht unattraktiven Abendkleid zieht sie Spielkarten aus Hutschachteln und zeichnet mit grüblerisch verzagtem Gestus die Nummer der jeweils darzubietenden Szene an ihren Käfig aus Plexiglas. Denn die aleatorische Komik der Alice-Vorlage wird metaphysisch aufgemöbelt: „Zwölf Episoden, zwölf Musiker, zwölf Tracks. Nicht einfach ein Dutzend, sondern zwölf Tierkreiszeichen, Zwölftonmusik, zwölf Jünger, zwölf Brüder“, vermeldet die erste Zeile des Programmhefts. Noch im Foyer wünscht man keinem Akteur, diesen Bedeutungslorbeer irgendwie wieder einspielen zu müssen.

Außerhalb des Käfigs, vom Publikum also rechts, drei weitere Akteure, zwei Frauen, ein Mann. Dass es keine zwölf sind, tut der Sache erstmal keinen Abbruch. Im Hintergrund ein durchlöcherter Kubus, im vorderen Blickfeld eine Wagenladung Autoreifen. Mit an Größe grenzender Einfalt wiederholt sich nun folgendes: Die schwarze Witwe zieht eine Karte, malt mit zitternder Hand ihre schwächelnde Ziffer, eine Musik hebt an und die drei Tänzer begeben sich in weitestgehend belanglose, im besten Falle noch rätselhafte, bewegte Bilder eines irgendwie urbanen Gestellt-Seins. Wasser wird in Behältnisse gefüllt, die dafür wenig geeignet sind: Koffer und Hutschachteln. Später blickt das Trio, versenkt in Röhren aus Pneus, getaucht in eisiges Blau und ausgestattet mit Handtuchturban und Sonnenbrille, bedeutsam ins gedankliche Irgendwo.

Originelles findet sich allenfalls in wenigen tänzerischen Figuren der Choreografie von Cindy Hammer: Das in einem Bewegungskordon eingebettete Schnipsen an der Unterlippe ist, obwohl freilich nur ein kleines Mittel, doch offen und bestimmt genug, Assoziationen auszulösen, die auf einen urbanen Redezwang hindeuten. Einen labyrinthischen Kommunikationsdruck, der allenfalls noch die Tür öffnete für die doch avisierte Irrfahrt einer modernen Alice durch die Verirrungsräume der großen Städte.

Aus dem Quartett prägt sich vor allem Susan Schubert ein. Ihr Körperspiel signalisiert ein eigenwilliges lasziv-lethargisches Interesse am anderen – und schlägt tatsächlich eine Brücke zwischen der Alice des Lewis Carroll und denen der späten Pop-Moderne. Solche sinnliche Anschlussfähigkeit täte dem Abend im Ganzen bitter Not. Die Addition des Zufalls, die schon in der Vorlage ihre Liebhaber braucht, wird auf der Bühne des LOFFT zum dramaturgischen Schafott. Was aus unserer Lebenswelt bekannt ist: Theken, an denen getrunken und Reifen, auf denen gefahren wird, scheitert als Spielmaterial, das vor zahlendem Publikum einfach in irgendwie ‚skurrile’ Situationen gesetzt wird. Der Zustand in den Städten der Welt fragt doch nach einem gültigeren Irrsinn.

(Leipziger Volkszeitung, 08.09.2012)

Go Plastic: MIT ALICE IN DEN STÄDTEN | Konzept+Choreografie: Cindy Hammer | Tanz + Szenische Darstellung: Josefine Wosahlo, Susan Schubert, Sarah E. Lewis, Robin Jung | Musik: Siggy Blooms u.a.

 

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