Thilo Refferts «Die Sicherheit einer geschlossenen Fahrgastzelle» hat bei den Karlsruher Hörspieltagen bei Jury und Publikum gewonnen – VON ANDREAS HÜTTNER
Bei Film-, Fernseh- oder Theaterfestivals wäre es nicht denkbar, dass in vier von fünf Jahrgängen Jury- und Publikumspreis an die gleiche Produktion fallen. Bei den ARD-Hörspieltagen in Karlsruhe geht das. Jetzt ereilte die doppelte Ehre Thilo Refferts O-Ton-Hörspiel «Die Sicherheit einer geschlossenen Fahrgastzelle» (Produktion: MDR, Regie: Stefan Kanis). Und auch wenn ein Hörspielfestival möglicherweise so speziell ist, dass die Mühe einer Publikumsabstimmung im Internet nur jene Hörer auf sich nehmen, die dem Genre ähnlich eng verbunden sind wie die Fachleute – verdient war der Doppelerfolg allemal.
Der Titel entstammt, tatsächlich, dem Prospekt für einen Wartburg 353, einem Vorzeigeauto der DDR. Und er ist so doppelbödig wie alles, was in Refferts Hörspiel mit diesem Auto zu tun hat – dem Auto, mit dem es am 9. November 1989 zum ersten Grenzübertritt von DDR-Seite aus kam. Denn der fand abseits vom Berliner TV-Scheinwerferlicht im dunklen Niemandsland der Grenzübergangsstelle Marienbom-Helmstedt statt: Refferts Mutter stellte mit ihrer Tochter die Nachricht von der Reisefreiheit auf die Probe. Die beiden kamen um 21.25 Uhr in der Bundesrepublik an, kurvten einmal durch Helmstedt und fuhren wieder nach Hause. Thilo Reffert, damals in einer NVA-Kaserne unabkömmlich, bat 20 Jahre später Mutter und Schwester, die Strecke noch einmal abzufahren, wieder in einem Wartburg wie damals, diesmal mit ihm als Zeugen und Interviewer. Und prompt – solche Pointen darf nur das Leben schreiben – erwischt er auf der Suche nach einem alten Wartburg ein Gefährt mit Schiebedach, das er den Besitzer des Oldtimers während der Fahrt zu öffnen bittet. Worauf der antwortet: Öffnen könne man das schon, nur kriege man es dann nie wieder dicht.
Das Großereignis als Gegenwartsmoment
Da fallen das 28 Jahre alte Auto vom Sommer 2009 und die 28 Jahre alte Mauer vom Herbst 1989 ineinander – und ähnlich passgenau verschränkt das Hörspiel die Aufzeichnung der Fahrtrekonstruktion mit den politischen und medialen Momenten des historischen Abends: Mittels O-Ton-Aufnahmen damaliger Nachrichtensendungen oder der Sitzung des Deutschen Bundestags an diesem Abend wird eine Zeitstruktur geschaffen, die daran erinnert, wie unabsehbar alles in jenem Moment war, in dem das Großereignis noch aus lauter kleinen Gegenwartsmomenten bestand. Das ist aus heutiger Sicht mal beklemmend, wenn die Mutter berichtet, sie habe selbst nach der Fahrerlaubnis des Grenzers die versehentlich noch auf Rot stehende Ampel für «die letzte Falle» gehalten, und mal ist es hochkomisch – vor allem wenn der Ich-Erzähler in direkten Dialog mit den historischen Tonkonserven tritt. Denn erstens inszeniert Stefan Kanis das mit perfektem Timing, und zweitens gelingt Sprecher Matthias Matschke dabei ein wunderbar ironisch-genervter Tonfall, in dem dann auch noch die abgeklärte Distanz der heutigen Sicht auf diesen längst zum Topos verstaubten Abend anklingt. Hier tragen selbst Stimmcasting und Sprechhaltung zum Thema bei – mehr kann man sich von einem Hörspiel kaum wünschen.
Rahmenprogramm
Ein bisschen mehr wollen die ARD-Anstalten, die das 2004 gegründete Festival seit 2oo6 im Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie ausrichten, damit dann aber doch hermachen, und so gibt es ein ausuferndes Rahmenprogramm. Der Austragungsort ist dafür ideal, gibt es doch neben dem 47-kanaligen Klangdom-Saal mit überwältigendem Surround-Sound genug Raum, um in fünf Tagen viele Vorführungen, Diskussionen, Konzerte, Lesungen, Kabarett und Klanginstallationen ganz nah beieinander störungsfrei unterzubringen. Auch wenn’s mal richtig rappelvoll wird wie beim Live-Hörspiel «Die Vögel» nach Oskar Sala, dessen szenischer Mehraufwand nur mäßigen Mehrwert hat: Hätte sich die Inszenierung von Andreas Ammer auf die Collage aus Interviewausschnitten von Oskar Sala (original) und Tippi Hedren (nachgespielt) über die Arbeit an Hitchcocks Klassiker beschränkt, untermalt mit dem hier live erzeugten hypnotischen Lounge-Pulsieren von Ammers Dauerpartner Console – die Bilder im Kopf wären zwingender gewesen als jene, die zwei Darsteller im Hitchcock/Hecken-Look in einer bemüht witzigen Rahmenhandlung um eine Tonband-Archivarin und ihren verklemmten Verehrer abliefern mussten.
Der hier verzeichnete Besucherandrang bestätigte nicht zuletzt ein Fazit der kurz zuvor gelaufenen Diskussion über die Beliebtheit von Romanadaptionen in Film, Theater und Hörspiel, welches lautete: Für einen Publikumserfolg ist ein großer Name (von Werk oder Darsteller) unabdingbar. John von Düffel, der als adaptierender Autor und Dramaturg auf dem Podium saß, kam zudem zu einem Fazit, die Romanbearbeitungen seien der letzte Versuch der Bühnen, seinem Publikum einen Diskurs zu ermöglichen, da es konsensstiftende Mythen mit dem Verschwinden des Bildungsbürgertums nicht mehr gebe. Da steht freilich das Hörspiel nicht hintan, wenn es mit verschenktauglichen Produktionen wie «Don Quijote» (großer Name!) mit Rufus Beck (großer Name!) seinen Part als handwerklich brillanter Vorkauer großer Literatur bedient.
Ein Grund mehr, mit einem Preis aufmerksam zu machen auf Refferts großnamenloses Stück. Denn das ist aufgrund seiner Erinnerung an einen Moment, in dem die deutsche Geschichte wahrhaft offen war, enorm diskurstauglich – und es serviert all das so komplex, präzise und zugleich leichtfüßig unterhaltsam, dass das Theater, sofern es nicht eine Sternstunde von Rimini Protokoll erwischt, von diesem Wartburg nur noch die Rücklichter sieht.
ANDREAS HÜTTNER (Theater heute; 01/2011)