Eine Rede. Gehalten anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „Große Fahrt“ in Ribnitz-Dammgarten
Schaut man sich um, so darf man annehmen, Herr Müller steht mit der Tierwelt auf einem besonderen, vielleicht auf gutem Fuße. Die Zahl der tierischen Wesen – so wollen wir sie nennen – die seine Bilder bevölkern ist immens. Und sie stellen uns heute Abend vor die erste zu lösende Frage: Wer wen? – Das heißt: Wer ist hier für wen da?
Aus unserer schulischen Allgemeinbildung früher Jahrgänge ist uns die Fabel im Gedächtnis. Äsiop, Lessing, Ulbricht. Wie geht sie vor? Sie betreibt – in einem Wort – die Vermarktung der Tierwelt für unsere pädagogischen Interessen. Der Fuchs zum Beispiel: Die Fabel stempelt ihn zum heimtückischen Bösewicht mit rhetorischen Fähigkeiten. Seine Position in der natürlichen Nahrungsmittelkette wird von uns zum Straftatsbestand stilisiert: Füchse „stehlen“ Gänse. Und das vorsätzlich und arglistig. Die Fabel bedarf einer Ikonographie des harten Stiftes, der klaren Verhältnisse. „Gut und wahrhaftig“ gegen „bösartig und verschlagen“. Eine flüchtige Umschau im Raume läßt erkennen: Solcherart moralische Verkehrszeichen sind Müllers Sache nicht. Vorstellbar wären allenfalls Improvisationen zu Seitentrieben der Fabelhandlung. Was ich mir aus Müllers Hand vorstellen könnte: Wir alle kennen die Liedzeile „Fuchs, du hast die Gans gestohlen – gib sie wieder her!“ – wir alle, am wenigsten die Sänger, rechnen damit, daß der Fuchs dieser Aufforderung wirklich nachkommt. In Müllers Bilderwelt hätte solch aparte Szene aber ihren Platz – wie sich der Fuchs mit einem lädierten „etwas“ zwischen den Zähnen in eine Bauernstube wagt, um der forschen Bitte nachzukommen – das gewinnt den überkommenen Sichtweisen neue Seiten ab. Die Illustration von pädagogischem Material jedoch verlangt nach klaren Verhältnissen. Bei „rot sollst du gehn, bei grün darfst du stehn“ – wenn da etwas durcheinander käme…
Lehrbücher fallen als Einnahmequelle des Müllerschen Haushalts aus, soviel steht fest.
Die Tierwelt bei Müller fungiert also nicht als Spiegel des menschlichen Charakters, sondern als Brechung. Ich möchte Ihnen dies an einem Beispiel entwickeln. Ich greife ein nicht ganz unbekanntes Blatt heraus – die „Hirschbeutelkuh“. Sie verzeihen mir, daß ich im Interesse der Sache etwas aushole, mir das Werk, nach einem Wort von Walter Benjamin, so liebevoll vornehme, wie sich der Kannibale einen Säugling zurichtet. Die „Hirschbeutelkuh” also – wahrlich ein kleines Universum an Bezüglichkeiten und Überblendungen. Was geschieht? Eine Kuh bewegt sich auf dunklem Grund; es kann eine fette Schwarzerde sein oder Bitumen oder beides in einem – der lockere Pinsel macht keinen Unterschied. Der Himmel im Hintergrund ist preußischblau. Soviel steht fest. Die Kuh selbst schreitet aus – oder tänzelt oder tanzt sogar. Dafür spricht manches: Die abgewinkelte rechte Hinterhaxe, das schwungvolle gegenläufige Pendeln der Vorder(arm)hufe. Die Hirschbeutelkuh scheint mit sich selbst und der Welt im reinen. Einfach und ländlich, von des Gedankens Blässe verschont, so schreitet sie dahin. Natürlich verrät uns der zweite, ja vielleicht schon der erste Blick Insignien des beschädigten Lebens, das auch vor unserer Hirschbeutelkuh nicht haltmacht. Es sind dies vorerst Äußerlichkeiten, Dinge, die sie mit sich führt. Vielleicht ist ihr Inneres also noch ungetrübt fröhlich, rettbar; vielleicht ist ihr das Nachdenken über die Unwägbarkeiten und Dunkelheiten der Zivilisation noch fremd, vielleicht ist ihr der Boden, auf dem sie ausschreitet oder gar tanzt, noch Schwarzerde obwohl er in Wirklichkeit doch schon von Bitumen durchsetzt ist – vielleicht vergißt sie all die Probleme unserer Industriegesellschaft in ihrem tierischen Bei-sich-sein. Die Insignien, die das im umfassenderen Sinne Gesellschaftliche zu ihr heranholen, führt sie also bei sich. Wobei genau der Begriff des “Beisichführens” die Verhältnisse nicht richtig wiedergibt, ihnen unseren menschlichen Blick aufnötigt. Sie preßt ja nicht mit ihren Extremitäten die Gegenstände an sich, sondern umgekehrt: die Insignien, mit denen sie sich aus Attitüde behangen hat, klammern sich nun an sie. Es sind dies, wie man umgangssprachlich formuliert, ein „Peace” -Zeichen und ein, ebenso umgangssprachlich, „Hirschbeutel“. Aus dem Beutel ragt eine Flasche – sie wird wohl, der Ausgelassenheit der Bewegungen der Trägerin und dem äußeren Anschein der Flasche nach zu urteilen, Rotwein enthalten – wenn eine Vermutung über die Marke den Rahmen einer seriösen Betrachtung auch sprengt – Was wird unsere Kuh wohl trinken: „Erlauer Stierblut“ etwa oder „Rosenthaler Kadarka“.
So erscheint die Kuh also als ein heiteres, selbstvergessenes Wesen, daß sich selbst einspannt zwischen zwei große Utopien unseres ausgehenden Jahrhunderts. Der Künstler wählt – er ist durch das Sujet zur beispielhaften Verknappung gezwungen – eine leibliche und eine geistige: Alkohol und Friedenssehnsucht. Wie zwei Trabanten umkreisen die Insignien, zu sich diagonal, die Kuh. Im ironischen Widerspiel zur gemäßigteren Bewegung des Körpers sind diese unmittelbaren Zeichen der gesellschaftlichen Einschreibung in einen zirkulären Wechsel getreten. Bedeutet dies dem Künstler mehr als eine formale Nuancierung der diagonalen Komposition des Hufpaares? Beileibe keine unwichtige Frage – jedoch, die Umstände nötigen uns hier zur Kürze, ich lasse die Analyse dieses Motivs in der Schwebe zwischen “gestern und morgen” – wie ein großer Dichter sagt – und lege Ihnen, sehr verehrte Damen und Herren, dieses Motiv um so mehr zur individuellen Betrachtung und Beachtung ans Herz.
Wenn, wie wir annehmen dürfen, die Kuh ihren “Hirschbeutel” nicht völlig zufällig mit sich führt, es für sie nicht in Frage käme, etwa mit einer Aldi-Tüte unterwegs zu sein, dann können wir sie mit hinreichender Sicherheit als jener eigentümlichen Spezies von “Hirschbeutelträgern” zugehörig betrachten. Der “Hirschbeutel” ist Symbol einer Lebensphilosophie, die zu charakterisieren, mir schwerfällt. Diejenigen unter Ihnen, die dörfliche Rockkonzerte vor dem Zusammenbruch der Deutschen Demokratischen Republik aus eigenem Erleben kennen, brauche ich kein Wort mehr über die typischen Träger dieser Behältnisse aus gewirktem Bezugsstoff zu sagen. Allen anderen sei empfohlen, die inneren Bilder zu verdichten, die ihnen beim Zusammendenken der Begriffe Bob Dylan – lange Haare – Römerlatschen – junge Gemeinde – Strickrollkragenpullover und Hermann Hesse kommen. Rotwein und “Peace-Zeichen” fanden bereits ihre Erwähnung. Soweit zum „Hirschbeutel“.
Auf der anderen Seite: die Kuh. Eine Kuh, ist eine Kuh, ist eine Kuh, ist eine Kuh. Der Künstler macht es uns nicht einfach. Ich darf mich Ihrer Zustimmung versichern, daß es nicht angeht, die Kuh etwa im simplen Jargon des Alltags als mißliebige Person weiblichen Geschlechts aufzufassen. Die Bildmetapher wäre keine Metapher mehr, sondern eine schlichte Aussage: Hirschbeutelträgerinnen und -träger sind unangenehme Mitbürgerinnen und Mitbürger. Über den Wahrheitswert dieser Aussage zu streiten, gehört angesichts des vorliegenden Kunstwerks und der an ihm zu leistenden Interpretationsarbeit nicht zu unseren aktuellen Aufgaben. Die Debatte der aus dem Titel abgeleiteten Begrifflichkeit dauert ohnehin schon zu lange an – ein Blick auf das Blatt belehrt uns kürzer. Dem Künstler war es offensichtliches Anliegen, der Kuh sogenannte liebenswerte Züge zu verleihen; überlassen Sie sich ruhig, sehr verehrte Damen und Herren, dem ersten Eindruck, den sie vom, ich zögere nicht zu sagen: Gesicht der Kuh gewinnen. Das offene Auge, die verspielt gewachsenen Hörner, der durch ein verwegenes, aber doch keinesfalls anzügliches Rot herausgearbeitete Mund. Sicher ist es ein Grenzfall hier von einem Mund statt einem Maul zu sprechen; doch ich bleibe damit, wie ich hoffe, im Rahmen der mir gestatteten interpretativen Freiheit. Faßt unser Blick weitere Details der Figur ins Auge, so werden wir ja zweifelsfrei gewahr, daß selten das Euter einer Kuh an jener Stelle zu finden war, an der der Maler entsprechende Hebungen ins Bild aufgenommen hat. Menschliches und Tierisches verschmelzen. Ein rechtes Fabelwesen, kein simples Tier in der Fabel, das ist die Müllersche „Hirschbeutelkuh”. Wohin geleitet uns also die Metapher? Sie führt uns – gestatten Sie mir das auszusprechen – in den Bezirk großer Kunst. Sie führt uns an ihre eigenen Grenzen. Denn nur Konstellationen, mit deren Segmenten wir sehr wohl etwas verbinden, die unser Auge reizen, deren interne Spannung sich jedoch nie in einem erkennenden, festlegenden „Aha!” entlädt, weisen uns auf das, was uns Sterblichen letztlich versagt bleibt: die Erkenntnis des letzten Sinns unserer Existenz.
Werke wie die „Hirschbeutelkuhl” gemahnen uns an dieses andere – die Suche nach ihm bleibt unsere Aufgabe. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen eine angenehmen Abend in der Ausstellung „Große Fahrt“ von Thomas M. Müller.
Stefan Kanis
Ein Rede. Gehalten von Stefan Kanis zur Eröffnung der Ausstellung »Große Fahrt« von Thomas M. Müller in der »Galerie im Kloster« zu Ribnitz-Damgarten am 25.07.1998 | Prof. Thomas M. Müller