Ein Sittenbild von Sibylle Berg
Viel gut essen. Hörspiel nach dem Theatertext von Sibylle Berg. Mit: Fabian Hinrichs.
Ton: Holger König. Schnitt: Christian Grund. Dramaturgie: Thomas Fritz. Regie: Stefan Kanis.
(Erstsendung: MDR KULTUR, 29.10.2017 / WDR 3, 02.11.2017 | 54’26)
Ausschnitt aus »Viel gut essen«
Der Mann (weiß, heterosexuell, gesund, aus der Mitte der Gesellschaft und in den besten Jahren, kein Looser) kocht das ultimative Familienrückgewinnungsmenü: erlesene Zutaten, anspruchsvolle Techniken, mehrere Gänge. Leider hat er nicht nur Frau und Sohn eingebüßt, sondern auch seinen Job in der IT-Branche. Die Wohnung ist, seit das Geld fehlt, gekündigt. Dafür wird sein Viertel von Karrierefrauen und Feministinnen, „Kinderwagenbataillonen“ und homosexuellen Paaren besetzt, die „mit nackten Ärschen auf Designer-Sesseln“ lümmeln und aus Riesenboxen Klassik hören, „um sich aus dem Mob auszugliedern“. Von den Ausländern gar nicht zu reden! Sich ermannend auf verlorenem Posten, schnippelt er Gemüse und macht seiner Wut Luft: über die Eurolüge, über die Hipster, die Gentrifizierung und natürlich: die hinterlistigen, lüsternen Asylbewerber. Kann ein Mann wie er denn schweigen, wenn draußen gerade die Welt untergeht? Keine Frage, im Getümmel der Meinungsschlacht überlebt nur, wer alle Register zieht.
Kritik in epd-Medien:
„(…) Die Verschränkung von großbürgerlichem Lebensstil und kleinbürgerlicher Haltung ist mittlerweile ein gängiges Motiv angesichts des Rechtsrucks in Europa. Doch damit will sich Kanis offensichtlich und glücklicherweise nicht zufrieden geben. Sein Mann wird nicht von Volkes Stimme sekundiert, sondern von Richard Strauss, Kate Tempest und vor allem vom Regisseur höchstselbst in seiner Tirade unterbrochen. (…) Ein Schauspieler, der einen Schauspieler mimt – Hinrichs beherrscht es auch im Hörspiel wie kaum ein anderer, zugleich Authentizität und Distanz zu einer Figur zu verkörpern. Nicht nur die Regie, auch der Sprecher selbst korrigiert hin und wieder seine Darstellung: „Nein, nein, das ist zu aggressiv.“
Selbst wenn man diese Interventionen als Reflexion auf die vermeintliche Selbstzensur der politischen Korrektheit lesen könnte, so dient sie doch vor allem dazu, den Monolog des weißen Mannes als Inszenierung zu kennzeichnen.
Diese Durchsichtigkeit aufs Gemachte, dieser Bruch im Tiraden-Rhythmus, rückt die Fiktion selbst ins Blickfeld: Wie imaginiert ein Autor, eine Autorin diesen Typus Mensch und dessen Abdriften in die Paranoia? Was ist noch Einfühlung und Verständnis und was bereits Klischee? (…)
Und vielleicht sind diese Fragen wirklich interessanter als jene nach Gründen und Ursachen für die Radikalisierung des Mittelstands: Wieso weiß die angebliche Elite nicht, wie es so weit kommen konnte und wieso konnte oder wollte sie es nicht verhindern? (…)“
(Katrin Schuster; epd-Medien, Nr.45, 10.11.2017)
Sibylle Berg, 1962 in Weimar geboren, verließ 1984 die DDR und lebt heute in Zürich. Seit ihrem Debüt „Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot“ 1997 hat sie sechzehn Bücher veröffentlicht, zuletzt „Wunderbare Jahre. Als wir noch die Welt bereisten“. Ihre Theaterstücke („Helges Leben“, „Hund, Frau, Mann“, „Hauptsache Arbeit!“, „Nur Nachts“, „Die Damen warten“, „Angst reist mit“ u.a.) werden an zahlreichen Bühnen im In- und Ausland gespielt. Der MDR produzierte zuletzt das Hörspiel „Und jetzt: Die Welt!“, das mit dem „Hörspielpreis der Kriegsblinden 2016“ ausgezeichnet wurde.