VR als simulierte Teilhabe
Lebt die Kunst nicht von der Vorstellung, dass es etwas anderes gibt? Das Andere, das Abwesende. Was täglich ohne weiteres geschieht, nennen wir Realität. Ob sie gut ist oder schlecht; sie hat die Qualität des Anwesenden. Seit der Mensch jedoch über Spuren von Freizeit verfügt, über Energie, die über Reproduktion hinausgeht, beschäftigt ihn das Abwesende. Dieses Abwesende wünscht sich nicht nur Alternativen zum dreidimensionalen Hier und Jetzt, sondern es ist auch u-topisch im Ort seiner ‚Realisierung‘. Das Abwesende lebt in der Imagination, es trägt fabulierenden Charakter. Die Literatur zum Beispiel, auch wo sie ihre Schauplätze satt mit Realien tränkt, ist dem Kanon der Imagination verpflichtet. Kunst – und das ist hier der Punkt – geht nicht über unsere Erfahrung hinweg, sie sucht das Abwesende, muss dazu aber im Eigenen beginnen. Jede Zeile Belletristik, jede Note, jedes Bild tritt als Frage in unser Bewusstsein. Nur in unserer Antwort entsteht das Andere.
Das Kino verschiebt sich mit jeder technischen Innovation weiter von der imaginativen Arbeit hin zur Okkupation. Dies ist einerseits eine Frage der technischen Entwicklung und anderseits eine, die vom Umgang mit diesen Werkzeugen abhängt. Umso breiter die Leinwand, um so perfekter die Special Effects, desto geringer der imaginative Austausch, die osmotische Beteiligung des Zuschauers. (Der als Zuschauer treffend bezeichnet wird.) Aus dem Bild als osmotische Frage an unsere Imaginationsfähigkeit wird das Abbild. Mit 24 Bildern pro Sekunde entsteht die Behauptung von Wirklichkeit, die unsere Weltkenntnis doubliert, umbaut und fokussiert. Sie besetzt den Raum der Imagination.
Godards Film „Die Verachtung“ (1963) beginnt mit einem Zitat von André Bazin: „Der Film unterschiebt unserer Vorstellung eine Welt, die mit unseren Wünschen übereinstimmt.“ Das, was wir uns im Geheimen wünschen, ist keine Funktion der Imagination. Der Wunsch ist eine Funktion des Lustprinzips. Was wir wünschen, ist affirmativ, Wünschen hilft uns, Defizite abzubauen. Der schöne Schein des Kinos löst für uns in einer Parallelwelt die Differenzen und Defizite auf. Sexualität, Emotion, Sinn. Daher ist das moderne Mainstreamkino notwendig differenzlos. Erzähldramaturgie, Schauplätze, Figuren, Musik, Schnittfolgen: Die formalen Mittel sind jeweils attraktiv, up-to-date, modisch. Sie machen sich damit unsichtbar; eine notwendige Voraussetzung, um unsere überzeitlichen Wünsche möglichst reibungslos zu aktualisieren und aufzufangen.
Mit der Weiterentwicklung von 3D zu VR wird dieses Rad nun weitergedreht. Jede technische Innovation des Kinos und der Games macht nur dann (ökonomischen) Sinn, wenn sie den Grad der Immersion erhöht. Simulierte Teilhabe verspricht. Das heißt, sie muss die Wunschwelt des Zuschauers / Nutzers immer bruchloser herstellen können. Die Tatsache, dass dies nicht seine Welt ist, muss so unsichtbar wie möglich gemacht werden. Möglicherweise bewegen wir uns tatsächlich auf die Matrix zu. Die Eröffnung von VR-Lounges und Teilhabeparks scheint für die nähere Zukunft die logische Konsequenz. Wie heute die großen Kinosäle die avancierteste Projektionstechnik vorhalten, werden diese VR-Parks dem Massenpublikum des Kinos und der Games die stundenweise Nutzung teuerster VR-Technik ermöglichen. Für 50 EUR gegen Hannibals Elefanten, in bed with Madonna oder den Aliens auf der Spur. Die Kommerzialisierung verschmilzt die ästhetische Illusion mit der politischen. Wunschabfuhr für alle.