Dekoration oder Anspruch?

Sieben Jahre Leipziger »euro-scene«

Die Messestadt Leipzig zehrt vom Ruhm vergangener Tage: Die Theaterreform der Neuberin – sekundiert vom trockenen Gottsched, die Leipziger Mustermesse – zu Honeckers Zeiten Ost-West-Drehscheibe und Objekt der vielfältigsten ökonomischen Begierden, das Gewandhaus – die Zentrale der musikalischen Hochkultur außerhalb Ostberlins. Und schließlich: der ‘89er Herbst als Hort der friedlichen Revolution. In den Leipziger Montags Demonstrationen schürzt sich denn auch in Leipzig der Knoten wirklichen Ereignens. Nach der Wende versinkt die sächsische Metropole in den Kämpfen und Krämpfen der Existenzsicherung. Es greifen beispielhaft alle Maßnahmen der fiktionalen und spekulativen Wirtschaftspolitik. Leipzig wird zum Banken-Zentrum des Ostens geadelt. Der „Spiegel“ erhebt die mittlere Großstadt in einer Titelgeschichte zur Metropole der Dreißigjährigen. In den Aufbau der Neuen Messe fließen Hunderte Millionen. Allerlei Unternehmensberater erwägen das zukünftige Image der Stadt. Messestadt Leipzig, Kulturstadt Leipzig, Kongreßstadt Leipzig. Spekuklantenstadl. Verwaltung der Stagnation einerseits und hemmungsloser Zweckoptimismus andererseits verdrängen wiederum innovative Impulse. Der Ärger bleibt freilich nicht aus. Der sächsische Rechnungshof weist seinem Gewandhaus unvertretbare Überausgaben nach, die superteure Mustermesse spielt noch lange keine internationale Rolle und auch die Darstellende Kunst erinnert verdammt an Gottsched. Dieser hypertrophierten Durchschnittlichkeit entspricht zu guter letzt auch noch der Mangel an journalistischer Reflexion. BILD und Leipziger Volkszeitung sind die einzigen örtlichen Tageszeitungen, beide aus dem Hause Springer.

Die Aufgabenteilung der Leipziger Darstellenden Künstler entspricht den Konventionen. Ein Opernhaus, eine Operettenhaus, ein Schauspielhaus mit Nebenspielstätten. Eins und eines und eins macht in Leipzig wie vielerorts nur drei. Die Multiplikatoren sucht man vergebens. Jeder schafft so gut er kann. Udo Zimmermanns Oper hat, was die künstlerische Qualität angeht, die Nase vorn. Im vergangenen Jahr kürten die Musikkritiker sein Haus zum besten Musentempel Deutschlands. Damit kann der Leipziger leben, interessiert doch ohnehin nur Minderheiten, was an musiktheatralen Novitäten in Leipzigs Zentrum vom nationalen Feuilleton beklatscht wird. Innovative künstlerische Eigenleistungen sind außerhalb des musikalischen Sektors denn auch dünn gesät. Verschiedene Festivals bemühen sich, diese Lücken zu schließen. Die das siebte Mal stattfindende „euro-scene“, Festival zeitgenössischen europäischen Theaters, ist unter ihnen das wichtigste. Der nur zu offensichtliche Bedarf garantiert jedoch keinen Bestand vorm Rotstift. Die frisch beschlossene Auflösung des Tanztheaters am Leipziger Schauspielhaus lehrt künstlerischen Minderheiten die sächsischen Noten. Schauspielintendant Engel war nicht bereit, am Budget der Sprechtheaters zugunsten der anderen Sparte zu sparen. Sortimentsbereinigung. In Leipzig überlebt nur, wer Grundversorgung gewährleistet, marketingkompatibel ist und/oder verbal nach den Sternen greift. Die „euro-scene“ hat also allen Grund zu befürchten, dem künstlerischen Dienst nach Vorschrift geopfert zu werden.

In einem kleinen Büro ringt die künstlerische Leiterin Ann-Elisabeth Wolff ein Jahr lang um die einwöchige Präsentation des „anderen Theaters“ in einem kleinbürgerlichen Kunstbetrieb. Die lächerlich geringe Anzahl an Mitarbeitern, ABM-Stellen zumeist, macht Selbstausbeutung zum Alltag – manch einer der eingeladenen Künstler wird sein Leben komoder gestalten als Frau Wolff. Freilich, das eine sagen, das andere tun – dies ist auch an der „euro-scene“ nicht restlos vorbeigegangen. Das ehrgeizige Motto des Festivals lautet: „Vision Europa – dem Fremden eine Tür“. Die inkommensurable Kraft des ‘anderen’ als Provokation – wenn es dies als Zeigbares, den Zwängen der Repräsentation unterworfenes überhaupt gibt – dem sich anzunähern, hatte die „euro-scene“ lange keinen Mut. In den Eröffnungsveranstaltungen und Abschlußgalas der vergangen Jahre dominierte häufig das formale Können, die tänzerische Attitüde, die Erstarrung der neuen Form in sich selbst. Die Einladung von Kresniks „Francis Bacon“ oder Jan Fabres Inszenierung der Medienikone Hannelore Elsner in „Eine tot-normale Frau“ waren so der Versuch der „euro-scene“, dem Westeuropa der Sommer- und Tanzfestivals ein paar bezahlbare Facetten abzuluchsen. Allzu häufig lag die Objektivierung und ästhetische Harmonisierung, die Sucht nach Geschlossenheit und Perfektion inklusive des exaltierten Kicks wie ein lauwarmes Tuch über den Produktionen der letzten Jahrgänge. Vielleicht ist es die Beherztheit der totalen Existenzbedrohung, die diesen siebten Jahrgang auf einen Weg schickt, der spürbaren konzeptionellen Anspruch mit einer bewußt integrierenden Geste zu vereinen wußte.

Die Socìetas Raffaello Sanzio eröffnete mit „Giulio Cesare“, einem sperrigen, überlegten Anti-Lehrstück über Sprache, Körper und Ideologie. In dieser Shakespeare-Adaption kann Mark Antonius fast nicht sprechen. Dem Schauspieler Dalmazio Masini raubte eine Krankheit die Stimme. Eine elektronische Apparatur ersetzt nun die natürliche Spracherzeugung. Regisseur Romeo Castellucci verschaltet die elektroakustischen Signale der rudimentären Sprechwerkzeuge direkt mit der Verstärkeranlage des Theaters. Der Rachen des Rhetorikers Antonius – „Brutus ist ein ehrenwerter Mann“ – ist die Diamantspitze am Anfang des Tonarms, ist der Laserstrahl des CD-Players. Unwirklich bis zur Groteske, verzerrt zwar, aber frei von jeder ‘verzerrenden’, von ihm unabhängigen menschlichen Übermittlung versendet Antonius Ideologie. Orator oder Rhetoriker – die romanischen Sprachen kennen diese Unterscheidung. Während jener die Sprache beherrscht und im Sinne aufklärerischen Denkens einsetzt; nutzt dieser deren medialen Eigenwert für seine demagogischen, antidemokratischen Zwecke, er stellt dar, was nicht ist, er evoziert Falsches. Castellucci bezieht seine gesamte Inszenierung in dieses Schwanken zwischen Lüge und Wahrheit mit ein. Ein Alter Mann erregt unser Mitleid. Kurz darauf dreht eine mechanische Katze ihren Kopf in rasender Geschwindigkeit um sich selbst und entlockt dem Publikum unfreiwillige Heiterkeit. Der alles überlagernde Soundtrack kündet von diffusem Unheil. In einem aufwendigen Taumel der Symbole schafft Castellucci eine theatrale Versuchsanordnung über die Mitteilbarkeit von Geschichte, ein trauerndes Gegenbild zu Peter Brooks »Qui est la«.

Das Deutschland-Doppel-Projekt von Gabriele Bußacker und Jo Fabian schließt sich dem ‘konzeptionellen’ Einstieg der „euro-scene ‘97“ an. Eine ost- und eine westdeutsche Sicht auf die deutsche Vergangenheit. Die Hamburgerin Bußacker wählt sich den Blickwinkel ’68. Das Kernstück ihres Abends „De Utschl And“ entsteht aus ironischen Debatten zwischen den Akteuren und ihren eigenen im Video gedoppelten Ichs. Was als Parodie auf den Gestus der Wohnzimmerrevolutionäre ansetzt, entfaltet sich in exakten Schnittfolgen zu einer umfassenden Inszenierung der Hilflosigkeit. Die spezifische Stilistik der Aufbereitung und Komposition des ‘Materials’ dominieren konsequent die Gestalt des Theaterabends. Eigenheiten der Bußackerschen Kompanie, die Sprachüberbehandlung, Dehnung und Akzentuierung des Gesprochenen, konvergieren letztlich mit ihrem ‘Thema’: Die Selbstdarstellung der Politik in Sprache – das Genießen des Sprechen-Könnens als Hebel der Macht. Was vor Jahren noch kritisiert worden wäre, die Erweiterung der exemplarischen Gestaltungsweise der Moderne, der Montage, um eine höchst individuelle, lustvolle Kennzeichnung, um das bewußte Signieren, ist heute legitimer Impuls gegen postmoderne Kompatibilität. Ob die individuelle Kennzeichnung dem Material, der Sache ‘dient’, fragt Bußacker nicht mehr. Ebenso Jo Fabian. Seinen Abend „Pax Germania“ erleben wir als Grundlinienspiel der DDR-Bürger. Vierzig Minuten lang simulieren acht Spieler ihren Alltag der kleinen Liebschaften und fruchtlosen Streitereien – immer in einer Reihe. Wenn die Mauer fällt, schieben sie sich zielstrebig, aber hilflos nach vorn. Zum Ende ist eine obskure Dreier-Formation als letzter Sendbote des Sozialismus den Zuschauern bedrohlich nahe gerückt. Auch Fabian verlagert seine erprobten gestalterischen Mittel, die Verlangsamung, die Wiederholung, die minimalen Entwicklungen innerhalb serieller Prozeduren, in sein ‘Thema’. Auch er verweigert dabei eine anverwandelnde Aufarbeitung, sondern individualisiert die Erinnerung von Geschichte radikal. Insofern passen Bußacker und Fabian besser zueinander, als man glauben mag.

Der Dialog zwischen der italienischen und den beiden deutschen Arbeiten strukturiert das Festival, entfernt es vom Potpourri eines beliebigen Avantgardebegriffes. Arbeiten wie Alain Platels Autoscooterballett „Bernadette“ bedienen dagegen mit ihrem Event-Charakter eben jene Highlight-Kultur, der sich Leipzig auf breiter Front andient. Naturgemäß schlagen eben jene spektakulären Easy Living – Produktionen mit der Frechheit des scheinbar Unmittelbaren Brücken in Zuschauerschichten, die sich vom verstaubten Schauspiel längst abgewandt haben. Ohne deren Interesse und Nachfrage wird progressive Kunst in Leipzig in den nächsten Jahren nicht zu haben sein. Der achten »euro-scene« bleibt bei der Feinabstimmung zwischen Publikumspflege und konzeptionellen Konturen eine glückliche Hand zu wünschen.

Stefan Kanis (Der Freitag, Dez 1997)

euro-scene Leipzig | www.euro-scene.de

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