Theater mit den Verkehrsbetrieben

„Kopflos“ – Eine Inszenierung im Straßenbahnhof Leutzsch nach einer Idee aus Michail Bulgakows „Der Meister und Margarita“.

„Kurzum, es war ein ekelhafter, widerwärtiger, attraktiver, schweinemäßiger Skandal“ – so rühmt Bulgakow in zielsicheren Attributen die ersten Auswirkungen eines unerhörten Zwischenfalls an den Moskauer Patriarchenteichen zu Zeiten der NÖP (Für alle Jung- oder Westdeutschen: Neue ökonomische Politik). Eines Zwischenfalls der ein Stück Weltliteratur einleitet. Kein geringerer als der Diabolus selbst begibt sich samt Hofstaat in die Hauptstadt der Sowjetrepubliken, um einigen voreiligen Atheisten zu zeigen, wo Gott wohnt. Und da rollen natürlich Köpfe: Ein Literaturtechnokrat gerät unter die Trambahn – und nur weil es der Antichrist vorhergesagt hat, wird er gleich verteufelt.

Bulgakow zeigt dem schnöden Fortschritt, den trockenen Rationalisten, was das Leben ausmacht: Geschichte und Selbstbestimmung, Hoffnung und Sinnlichkeit. Geschliffene Alltagsbeobachtung wechselt mit Phantastik und schwelgender Imagination, virtuos verschränkt er Zeitebenen, Erzählstränge, Sprachformen und Handlungsräume. Alt-Leipziger erinnern sich vielleicht noch an die Adaption des Lyrikers Czechowski, die als Auftragswerk des „Theaterkombinats Karl Kayser“ entstand und in der Spielzeit 85/86 sang- und klanglos unterging. Der Versuch, der poetisch-thematischen Fulminanz Bulgakows mit Theaterzauber und flachen Arrangements beizukommen, löste sich in lauwarme Luft auf. Nun steht den Alt- und Neu-Leipzigern ein „Nahverkehrskrimi“ nach Motiven des großen Romans ins Haus. Eine Koproduktion des Berner Theaters „Amarok“ des Leipziger „Mischaus e.V.“ und der Leipziger Verkehrsbetriebe (!).

Die Spielfassung setzt bei jenem attraktiv-schweinemäßigen Skandal an, um sich dann in klaren Linien aus Ideen und Sprachmaterial Bulgakows eine selbständigen Plot zu bauen. Wenn nämlich ein betagter Triebwagen der Leipziger Verkehrsbetriebe dem Theaterintendanten Berlioz im Leutzscher Straßenbahndepot den Kopf vom Rumpf getrennt haben wird, gibt es einen, der alles gesehen hat, und dem doch keiner glaubt. Iwan Besdomny heißt der arme Mann, der für den Intendanten gerade ein Stück geschrieben hat, das endgültig nachweisen soll, daß Jesus nie existiert hat. Während der Teufel auf der Parkbank an den Patriarchenteichen den Intendanten und seinen Dramatiker noch mit Insiderinformationen über Pontius, Jesus und Pilatus überhäuft, quält man sich im Theater um die Ecke bereits durch die Proben zu dem anti-christlichen Elaborat. Als dann der Intendant einen Kopf kürzer gemacht worden ist, will natürlich niemand dem armen Iwan glauben, daß es da einen merkwürdigen Herrn gab, der alles schon vorher gewußt hat…. Und unser Iwan landet in solider psychiatrischer Behandlung.

Mirko Marr, Regisseur und Initiator der Koproduktion, lächelt, kündigt kräftiges Theater an und vergleicht als Ostdeutscher diesen Skandal mit alltäglichen Mustern: Wer glaube einem schon, wie die DDR wirklich gewesen sei…. Wenn man an den Aufführungstagen 19.55 Uhr am Hauptbahnhof in eine ratternde, landeierfarbene Tatra-Bahn, steigt, kann man sich wahrlich einfühlen. Die Theaterbahn, ein Sonderzug der Linie 57, bringt das Publikum direkt in den Spielort, das Leutzscher Depot. Und mit ein bißchen Glück bleibt vielleicht der Kopf auch dran.

Stefan Kanis (KREUZER, Mai 1997)

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