Dschungel L.E.

Fünf aus zwölf Ansichten vom Fest

I.
Freitags 17 Uhr. Zwei Stunden vorm Spektakel ist die Bosestraße noch leer. Die Leiteinrichtungen der Werbestrategen weisen den zahlreich erwarteten Fremden den Weg vom Schauhaus zur Neuen Szene. Allein der Kollege mit der Goulaschkanone steht schon Suppe bei Fuß. Es ist kühl, sein Ofen heiß, er ist gut vorbereitet. Die Theaterschlacht kann beginnen. Zwei Stunden später entscheide ich mich für eine Bockwurst. Beim Abbeißen sinniere ich über das durchgestrichene DDR-Logo. Ein Abend zwischen weicher Wurst und deftiger Kapitalismuskritik?

II.
Kunst I: Pierre Walter Politz, der Meister der geformten Psychologie im Schauspielhaus Leipzig, schreibt und inszeniert ein allegorisches Stationendrama über Dr. Jürgen Schneider. Die Glanzfigur im Zwielicht des Gesetzbarkeit. Das ganze beginnt detailverliebt und präzise komisch mit Tom Pauls als Mutter Bähnert, der ältlichen Bekannten des Doktors. Auf der Bühne von Dorothea Mahr sieht es derweil aus wie bei einer Bauprobe zum „Kessel Buntes“. Aus dem allegorischen Sampler entsteigen die Städte Berlin, München, Frankfurt und unser Leipzig. Es folgen: die böse Presse, der gebeutelte Bauunternehmer, ein Banker und die Russenmafia. Und alle hängen irgendwie mit Dr. Schneider zusammen. Was sie von der Paulsschen Mutter Bähnert unterscheidet, ist nicht unbedingt ihre gedankliche, sondern ihre figurative Blässe. Die Klischees versinken in der süffisant eingängigen Musik der kühlen Unicycleman-Combo. Dramaturgisch geschickt und quasi die Rettung der Eröffnungsinszenierung, daß Mutti ‘Pauls’ Bähnert zum Schluß noch einmal die Lacher auf seine Seite und die Stimmung im Saal in den grünen Bereich bringt.

III.
„Die Pfosten sind, die Bretter aufgeschlagen / Und jedermann erwartet sich ein Fest“. Schon Goethe war kein Budenzauberer und was ein Fest ist, darüber darf man wohl geteilter Meinung sein. Frau Neuberin, die offizielle Henkerin des Hanswursts, mußte eben noch für einen fragwürdigen Leipziger Theaterpreis herhalten und nun feiert die feste Burg des gesetzten Schau-Spiels ein Theaterspektakel. Verkehrte Welt? Warum nicht. Das Spektakel ist schon ein gute Sache – Nebenabreden bleiben da ohne Einfluß. Es zeigt unter anderem, daß ein Apparat dieser Größe sein Geld Wert ist, wenn er bis an die Grenzen belastet wird.
Kunst II: Lukas Langhoff ist ein gelehriger Junior, der darauf verzichtet, nicht mehr existente Mauern niederzureißen. In seiner Inszenierung von Andreas Marbers »Das sind sie schon gewesen, die besseren Tage« rückt er das Schauspiel Leipzig in Sichtweite der Berliner Volksbühne. Beatrice von Bomhards Bühne stünde jedem Marthaler gut zu Gesicht. Ein liebevolles Eckkneipeninterieur. Kostüme und Regie theatern dagegen ein wenig. Das Ensemble der gestrandeten Figuren erhebt sich unter sorgsamer Blickwechsel-Regie zu pointenfähigen Inszenierungsgeschöpfen. Wenn Uwe Manske als prostatageschwächter Anarchist die Hosen runter läßt, bleibt die Unterhose freilich oben. Trash bei 30º. Schwamm drüber. Das gesamte Ensemble freut sich über den Abend und hält das Publikum mit Recht bei der Stange. Der Schluß muß übrigens ungeheuer musikalisch sein – „wie ein Stern in einer Sommernacht“ u.ä. drang bis ins Foyer, in dem ich beim zwischenzeitlichen Bierholen hängengeblieben war.

IV.
„Gesellschaften ohne Staat, wie die Indianerkulturen, verfügten über Techniken im Umgang mit den Drogen, die es erlaubten, daß der Festcharakter beibehalten wurde. Jedes Wochenende war ein Drogenfest, weil alle damit umgehen konnten. Damit war die Entgrenzung kollektive Erfahrung, und während der Woche konnte man wieder Teppiche knüpfen oder sonstwas tun, um das nächste Wochenende zu finanzieren.“ (Müller) Der Buchhändler im Hause hatte es schwer. Bis 22.45 drei Paperbacks abgesetzt. Am nächsten Tag ging ein Buch über den Tisch. Keine Macht den Drogen. Besoffen von Theater? Der Besucher des Spektakels steht am Scheideweg zwischen seinem orgiastischen und seinem besseren Ich. Der erprobte Selbstversuch, die Wahrnehmung des Abends durch mäßigen aber stetigen Konsum von Drogen zu verschieben, sei dringend empfohlen. So entgeht man der Terminhatz durchs kulturelle Überangebot und damit der braven Einwegkommunikation. (Folgerichtig daher, daß zwei liebenswerte Jugendliche den verzögerten Beginn der Langhoff-Inszenierung nutzen, um an der Bühnenbildtheke Platz zu nehmen und sich vom bravourösen Kneiper Hummitzsch zwei Biere ausschenken zu lassen. Wiederum folgerichtig, daß kurz darauf ein Assistent herbeieilt, um die beiden wieder sanft ins Parkett zu weisen. Theater ist Verabredung und die Plätze an der Theke werden schließlich für die Künstler gebraucht. Es sind ihre Arbeitsplätze und die sind bekanntlich knapp.)

V.
Kunst III: Regieturbo Armin Petras kultiviert seinen erzählenden synthetischen fragmentarischen Stil. Das neue English. Drogenerfahrung ist willkürliche Komposition, Überblendung von Fremdtexten mit Zitaten und bizarren Eigenwelten. Unübersichtliche Kollaboration mit allen Arten von Umwelt. Außer Atem in Zeitlupe. »Attemps on her life« von Martin Crimp. Es geht um Anne. Anne ist erstens eine Frau. Anne ist zweitens eine Terroristin. Anne ist Mutter? Anne ist mehrfach getötet? Anne ist das Produkt ihrer Umwelt. Anne ist eine Erinnerung der Medien. Petras läßt seine Akteure spielen. Das Publikum spielt mit oder es ist ohne Chance. Zu »Attemps on her life« passen vielleicht etwas mehr als 0,8 Promille oder ein äquivalentes Maß anderer Substanzen. Ein schönes Stück Theater.
Kunst IV: Nikolai Koljadas »Die Schleuder«. Ein Sittendrama geschrieben 1989 – die Brisanz des schwulen Coming outs im Endstadium des sowjetischen Realsozialismus. Regie ebenfalls Petras. Bei ihm ist die Agonie der 90er schon Bühnenrealität. Er zerlegt das Stück und überhitzt es. Gefühle beginnen bei 200 %. Er verheizt die darstellerischen Intensitäten von Aljoscha Stadelmann und Marco Albrecht bei geöffnetem Fenster. Eine Verschwendungssucht, die aufglüht und leer läuft. Eine Geschichte, die es wert wäre, sie zu erzählen, die im Gegensatz zu Crimp erzählbar ist, wird atomisiert und in ihrer Übersteigerung aufgelöst. Schade.

VI.
„…denn die leichteste Weise der Existenz ist in der Kunst“ (Brecht) Und das meint der Jubilar durchaus positiv. Vergnügen zu schaffen, sei die nobelste Funktion, die man für Theater gefunden hätte. Vergnügen an historischen Gegenständen – die DDR gehört dazu.
Kunst V: »Weiberkomödie« von Heiner Müller in der Inszenierung von Thomas Bischoff – eine Augen – und Ohrenweide. Das Stück umkreist die Mühen der Emanzipation der Frau von ihrem alten neuen Adam. Im Sozialismus so schwer wie überall. Müllers dialektische Komödie voll shakespearischem Sprachwitz wird hier beim Wort genommen und darf atmen. Den Figuren steht ihr Denken ins Gesicht geschrieben, das Ensemble darf dies zeigen. Wenn sie dann sprechen, überrascht trotzdem jedes Wort. Kluge, witzige, nie selbstverliebte Arrangements. Sinnvolle Interludien. Beherrschte Komik. Sensible Anspielungen von Castorfs legendärem „Bau“ bis zu den traurigen Tulpen von Mattheuers „Ausgezeichneten“. Schöne Konzentration auf das Einfache, das so schwer zu machen ist. Ein Ensemblearbeit im besten Sinne. Bravo.

VII.
„Und bis zum Sinken überladen / Entfernt sich dieser letzte Kahn“ (Goethe) Ungesehen bleiben etliche weitere Arbeiten. Ein Schlußbild in blau: Auf der weiten Hauptbühne tanzen spät in der Nacht euphorische Menschen zur liebenswerten Musik von Unicycleman.

Stefan Kanis (KREUZER, Mai 1998)

Schauspiel Leipzig | Spektakel »Dschungel L.E.« | Premiere: 13.04.98 | www.schauspiel-leipzig.de

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