Mehr Typen!

»Das Ballhaus« als Studioinszenierung in der Neuen Szene

„Tango ist ein trauriger Gedanke, den man tanzen kann.“ Das ist der traditionelle Sinnspruch zum Thema Ballhaus. Ein Ort für den Krieg der Geschlechter. Hier zeigt er noch Würde und Kraft wenn er sich in Form entlädt, sich in ihr haltend, ihre Grenzen doch endlos erweitert. Man und Frau können sich zwar nicht entbehren, aber verstehen werden sie sich nie – das ist die Trauer des Tangos. Im Ballhaus schwebt etwas von dieser Stimmung – und von der Hoffnung, es könne so etwas wie Glück geben. Doch das alles liegt uns nicht, wenn wir Deutschen in verbeulter Freizeithose und „rüssel fläz gähn“ -Stimmung mit der Legion Condor nach Mallorca fliegen. Außerdem schreiben wir das Jahr 1999. Folgerichtig beginnt im Ballhaus in der Neuen Szene alles mit trögem Westbam-Tecno. Der ideale Partybesucher dieser Tage ist androgyn, spezifisch, unauffällig und vereinzelt – und tritt doch nur in Massen auf – und fühlt sich auch noch gut dabei. Doch die Neuzeit währt nur eine Sekunde. Dann sind wir zwischen den Weltkriegen. Regisseur Kastenmüller inszeniert eine fragmentarische Erinnerung. Ein Generation X-Kollege irrt durchs Tableau und muß sich erst einmal den zeitgemäßen Dress gefallen lassen. Dann beginnt die Zeitreise. Über die Nazis, und das deutsche Wirtschaftswunder, die Beat-Generation, die Night-Fever-Ära, bis schließlich vier Solo Sunny’s den westlichen Gecken musikalisch zwischen die Beine greifen. Unfaßbar für die Generation X – was es früher, ganz früher mal gegeben haben muß.

Stellen Sie sich bitte vor, Sie müßten 1 ¾ Stunden lang immer genau wissen, wo Sie gerade stehen, welche Hand sie heben – und wie Ihr Gesicht gerade aussieht. Und alle fünf Sekunden anders. Das ist furchtbar anstrengend. Und so geht’s im »Ballhaus« zu. Regisseur Kastenmüller und Choreographin Kurotschka bauen mit den 12 StudentInnen des Schauspielstudios eine Mammutchoreographie. Aufwendig, detailverliebt, und ungeheuer gestisch. Hier tanzt jeder aus der Reihe, aber immer nach Plan. Im »Ballhaus« ist man nicht nur anwesend, trinkt und flirtet, sondern alles bitte: mit Bedeutung. Jedes Gesicht will sprechen, jede Bewegung will erzählen. Unentwegt entscheiden sich Bühnenschicksale. Typen verstecken sich hinter Figuren. Das schadet dem Abend. Denn diese Figuren sind getanzt, sind gemalt – aber sie wollen auch noch leben. Ihre Tragik bleibt jedoch die Tragik des Ballets. Bei einem Auftritt von »The Who« aber müssen die Gitarren zerschlagen werden. Diese Crux entspannt sich, wenn die Komik, die Tänzern und Marionetten innewohnt, forciert und offengelegt wird. Ein unbeholfenes Tanzpaar schießt beim Wirtschaftswunder-Tanzwettbewerb nicht zu Unrecht den Vogel des Abends ab. Und über die ungefeilte erotische Kampfeslust der Ost-Frauen erzählt die ironische Überspitzung des unbeholfenen Englisch der Solo Sunny mehr, als auf den Punkt gespielte Konflikte. In einem Tanzsaal regiert der große Erdenkreis der erotischen Sehnsüchte. Ihn zum Spiegel deutscher Geschichte machen zu wollen, ist wohl bereits das Manko der Vorlage von Mensching. Mehr Mut zum Slapstick, zum Originalen, zum Grotesken hätte einem sehenswerten, aufwendigen Abend ein kräftigeres Profil verliehen.

Stefan Kanis (KREUZER, April 1999)

Schauspiel Leipzig | »Das Ballhaus« von Steffen Mensching | Premiere: 27.02.99 | Regie: Peter Kastenmüller | www.schauspiel-leipzig.de

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