Just a perfect day?

Open-Air Spektakel »Urban Shots« hatte am vergangenen Freitag in Jena Premiere

Nicht nur Leipzig hat ein Hochhaus, das sich niemand mehr leisten kann. Zumindest niemand aus der Messestadt, schon gar nicht die Universität. Auch in Jena verstirbt Tag für Tag ein solch charmantes Ungetüm, kreisrund und schön – ein nutzloser gewordener Zeuge sozialistischer Zukunftsträume. Hinter ihm ragt ein schicker Neubau, nicht ganz so hoch, aber ungeheuer zweckmäßig. Die nutzlose Vergangenheit wegzureißen, kommt zu teuer. Also konkurrieren sie, die beiden Gebäude. Konkurrieren, wie die verschiedenen Leben, die die Menschen in Ost und West hinter (und vor sich) haben. Aus diesem Stoff und dem Blick in eine unwirtliche Zukunft hat das Theaterhaus Jena ein anspruchsvolles, immens aufwendiges Freiluftspektakel entwickelt.

In »Urban Shots« geht es um einen Film. Wie ein Film entsteht, gemacht von Leuten, die nicht wissen was sie tun. Die vorgeben, ein Problem zu behandeln, und doch nur ihr kleines Leben fristen. Zweitausend Zuschauer können diesem Dreh auf einer riesigen Traverse zuschauen. Die Geschichte dieses Films ist einfach. Die Babel-Corporation hat eine Serum entwickelt: »EQ 1«. EQ steht für Equality, für Gleichheit. Denn die verspricht der Konzernchef der Babel-Corporation. Das Serum dringt in die Gene der Frauen und es entstehen Kinder ohne Makel, mit gleichen Chancen und gleicher, nämlich null Individualität. Auf dem Eichplatz vor dem Jenaer Uni-Turm fällt die erste Klappe für eine idyllische Szene. Gedreht wird ein liebevolles Picknick auf einem Fetzchen Kunstrasen. Da strömen, getragen von euphorischen Klängen, Dutzende orange gekleidete Kinder auf den Platz. Der italienische Eismann versorgt sie mit Dutzenden Eistüten. Eine satte Choreographie des Himmels auf Erden, freudig überraschte Ahs und Ohs im Publikum. Plötzlich ein Breakbeat und von links jagen zwei schwarze Karossen auf den Platz. Rasante Schußwechsel, Handgranaten detonieren; man spart nicht an Pyrotechnik. Die Tochter des Konzernchefs wird verschleppt. Doch die Entführer sind nur scheinbar die Bösen, kämpfen sie doch für das Menschenrecht auf Freiheit. Für die Bewahrung der Individualität, gegen eine Gleichheit, die nichts anderes meint als Gleichschaltung.

Stück für Stück kommt diese Botschaft bei den Zuschauern an; hie und da macht sich Unbehagen breit. Im Sciene Fiction, der eben auch in den Jenaer Neubausiedlungen spielt, taucht unmißverständlich das zentrale Problem des Ostens auf: Eine skurrile Individualität zu besitzen, für die man sich nichts kaufen kann. Wenn die eigene Geschichte, die stolzen Gebäude der eigenen Stadt nur noch als Kulisse für abgefahrene Projekte taugen, wünscht sich der eine oder andere die stinknormale Gleichheit, die ganz gewöhnliche Anerkennung nach den Kategorien des westeuropäischen Mainstreams.

Wie schon zwei Jahre zuvor, bei dem sehr erfolgreichen Spektakel »Finster Schiller, finster« integrieren Regisseur Albrecht Hirche und sein Team etliche lokale Vereine und Gruppierungen in das Gesamtkunstwerk. Von der Hundestaffel der Polizei über Turnvereine, Tanztheater und die örtliche Feuerwehr – und da sind bei weitem noch nicht alle – agieren über 200 Darsteller auf dem Set von »Urban Shots«. Doch die Masse will den künstlerischen Atem nicht erzwingen. Es fehlt im dem riesigen Areal nicht an Technik und Personal, sondern letztlich an Poesie und Rhythmus. Der Anspruch des Projektes ist hoch. Drei Geschichten will man dem Publikum erzählen: Den Film im Moment seiner Entstehung, die Nöte der Macher, die ihn herstellen und schließlich und endlich den Film als Endprodukt, projiziert auf eine Großleinwand. In dieser Dreiteilung, die weniger zu einer Dreieinigkeit wird, als es sich Hirche und sein Team wohl gewünscht haben mögen, erscheint die Story der Filmleute am unschärfsten. Die Kräche zwischen Produzent und Autorin, die selbstverliebten Statements des Regisseurs, die aggressiven Verteidigungstiraden des Aufnahmeleiters – all das auf der Videowand im Großformat ins Bild gesetzt – geben wenig mehr, als das Klischee, daß man aus diversen Backstage-Komödien kennt. Das Schöne, Souveräne und Durchdachte des Abends prägt sich in den großen Choreografien. Und auch die sind nicht immer an Masse gebunden. Wenn zu Beginn der Veranstaltung der Regisseur die riesige Freitreppe zum Film-Set hinunterschreitet, getragen und unendlich erhöht durch die Erwartung und Verehrung, die ihm entgegenströmt, entfaltet sich eine theatrale Spannung, die die Vorzüge des Spielorts stilsicher zu nutzen weiß. Der Abend kennt einige solcher Szenen. Sie sind zu gut, um sich mit der aufgeregten Karikatur der Filmcrew ohne Verlust verknüpfen zu lassen. Gemischte Gefühle daher, wenn Lou Reed im Schlußbild »Just a perfect day« singt. In Erinnerung bleiben herausragende Bilder und eine kolossale Unternehmung, die sich ein wenig in der Vielzahl ihrer Mitteln und Möglichkeiten verirrt.

Stefan Kanis

theaterhaus jena | www.theaterhaus-jena.de

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