Allegra-Theater

»Pussy Talk« – eine Abendunterhaltung in der Neuen Szene

Oh Gott, gib uns ein Stahlgewitter – oder doch wenigstens Brigitte Reimann. „Who the fuck is B. Reimann“ schriebe dazu sicher irgendwer im Programmheft von »Pussy Talk«. In Sachen Reimann dürfen wir hier kryptisch sein, die Pussy-Brigade ergeht sich ebenso in Zeichen und Wundern – zumindest im Programmheft. Das regt die Phantasie an.

Die Texte der Akteure haben unbestritten eine assoziative Qualität. Sie sind anregend. Natürlich sind sie auch geheimnisvoll, introvertiert, autopoetisch, selbstreferentiell, ausgetüfftelt, heterogen, vielsagend, anmaßend, kokett, eingebildet, ambivalent… Kurz, sie versprechen, was »Pussy Talk« nicht einlöst. Aus der Theaterwerbung wissen wir: Es geht um Sex und Liebe. Also um hochindividuelle, erotisch-emotionale Wahrnehmungen. Die Vorgebildeten wissen vielleicht auch, dass Matthias von Hartz ‚auf Kampnagel‘ (in Hamburg) sich seine Meriten verdient hat. Es darf zeitgenössisches Theater erwartet werden.

Matthias von Hartz bereitet mit der Dramaturgin Anne Schöfer eine entpersonalisierte, gleichförmige Erzählstunde über Gehörtes und Erlebtes aus dem Sektor des Privaten. Das Programmheft verzeichnet zwei Darsteller und zwei Darstellerinnen: Liv-Juliane Barine, Christoph Schlemmer, Eva-Maria Schneider-Reuter und Frank Riede. Doch das ist eine Lüge: Dargestellt wird nichts. Wenn die vier zusammen in die Kamera winken dürfen, ist schon viel passiert. Die Leute erzählen. Aber auch das stimmt nicht. Ein Mensch – meine Nachbarin, mein alter Physiklehrer (Programmheft) – kann mir eine Geschichte erzählen. Ein Schauspieler im Theater muß verdammt dafür arbeiten, wieder ein Mensch zu werden, der mir eine Geschichte erzählt. Er wird dabei ins Schwitzen kommen. Doch im Allegra-Land wird nicht geschwitzt. Und da gibt es auch keine Menschen. Sicher, da gibt es schon mal eine Pointe, wenn etwa ein Dreißiger „das erste graue Haar am Hodensack“ entdeckt. Auch schon mal eine gut gebaute Short Story. Aber das ist alles. Matthias von Hartz häkelt die Texte zusammen, gibt seinen Darstellern ein paar Mittelwellenfrequenzen und wartet ab. Diese Theaterstunde hat weder den Geruch des Authentischen noch die Artistik des Gekonnten. Keine normalen Menschen und keine Zauberer. Ist das die Jugend der Berliner Republik? Und lohnt es sich dafür ins Theater zu gehen? Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass es eine Video-Green-Box gibt, lauter grünes Mobilar, natürlich Mikrofone, eine Videokamera, eine Choreographie und dass das Top von Liv-Juliane das gleiche Rosa hat, wie die Scheinwerfer auf der linken Seite.

Stefan Kanis (KREUZER, April 2000)

Schauspiel Leipzig | »Pussy Talk« von Piet Arfeuille nach Johan Vandenbroucke | Premiere: 12.02.00 | Regie: Matthias von Hartz | Mit: Liv-Juliane Barine, Christoph Schlemmer, Eva-Maria Schneider-Reuter, Frank Riede |

Dieser Beitrag wurde unter Theaterkritik abgelegt und mit , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.