Halle im Glück

Nach einem Vierteljahrhundert Peter Sodann hat das Theater der Nachbarstadt einen neuen Intendanten. Das Leitungsteam um Christoph Werner erprobt frische Spielweisen.

Nach Halle sollte man mit der Bahn fahren. Der Weg vom Bahnhof ins Zentrum führt durch eine Fußgängerzone. Vietnamesische Bekleidungshändler ziehen ein paar Käuferinnen an, der klassische Einzelhändler sieht nicht viele Kunden, etliches steht leer. Bonjour tristesse? Zumindest ein nüchterner Empfang. Aber die Dinge sind wie sind; die Nachfrage bestimmt das Angebot. Und Halle hat kein Geld – und wohl auch keine Lust – das zu kaschieren. Soll sich Leipzig ruhig das Gesicht pudern, für Olympia reicht es trotzdem nicht.

Vielleicht sind die Hallenser wirklich ein bisschen geradeheraus und pragmatisch. Das ist nicht das Schlechteste. Peter Sodann kennt seine Hallenser. Der MDR-Tatortkommissar war hier seit 1981 Theaterchef. Er hat ihnen eine Kulturinsel ins Zentrum gesetzt und das Karree auch noch so genannt. Wir bringen euch Kultur in die Pampa. Sein Theaterverständnis hat ihm auch nach der Wende das Haus gefüllt: Die Erprobung des Menschlichen in überschaubaren Zusammenhängen. Dabei hatte er Sinn fürs Kulinarische – auf den Nebenspielstätten rankten sich die Girlanden des gehobenen Boulevard. Theater als ‚Laboratorium der sozialen Phantasie’ (wie es im avancierten Theaterdiskurs der DDR gern hieß): Fehlanzeige! Aus einem gut gespielten Klassiker lässt sich manches lernen über böse Menschen in exemplarischen Situationen – falls das Publikum Lust hat, mag es sich seinen Teil denken. Wenn Theater mehr will als darstellenden Realismus, wird die Luft schnell dünn. Nicht nur in Halle. Peter Sodann hat vielleicht auch anderes gewollt – sein Nachfolger Christoph Werner hätte ohne diesen Impuls wohl nicht zu dieser Spielzeit angefangen. Der Mann kommt vom Puppentheater. Da geht Wirklichkeit von vornherein stiften in die Unzucht von Führer und Marionette. Im einfachsten Kasperletheater laufen mindestens zwei Spiele gleichzeitig. Wer führt wen? Ein intelligentes Puppenspiel kann über Herrschaft, Abhängigkeit und Ambivalenz mehr erzählen als ein schön gesprochenes Königsdrama.

Im Spielzeitheft unterstreicht Christoph Werner, was alles bleibt. Nennt die Namen der liebgewordenen Stars. Auch er kennt seine Hallenser. Als Chef des Puppentheaters hat er sein Haus und sich nach oben gespielt. Die Hallenser Szene kam über die Jahre lieber zu ihm als in Sodanns theatralen Meisterbetrieb. Nun sitzt Werner, der sensible Mann, deutlich mehr Künstler als Chef, in seinem kleinen Theaterkombinat und muss für alle da sein. Er begreift es als Chance. „Reisen ins Glück“ heißt das Spielzeitmotto. Und schon stockt man wieder. Hat der Osten nicht andere Probleme? Chefdramaturg Jochen Kiefer merkt an, dass neue Probleme zu häufig mit alten Fragen beantwortet werden. Wenn jetzt noch jemand auf der Bühne sagt, dass man Gut und Böse nicht mehr auseinanderhalten kann, haben wir den Salat. Schwappt die elende neue Zeit nun auch auf die Kulturinsel? So sagt es auf der Bühne aber keiner – und so ist es auch nicht gemeint. Der Pfeil, der durch alle Stücke zieht, weist nach draußen. Seefahrer, Abenteurer. Nur weg aus dem Zement. Das geht nicht immer gut aus.

Beispiel 1: Oliver Bukowski: „Steinkes Rettung“. Ein Top-Verkäufer macht sich für die Firma breit und wird trotzdem in eine familiäre Auszeit in die Berge verbannt. Er wartet nicht ab, was ihn nach dieser Zwangspause erwartet. Er handelt. Zwischen Sitcom und Marieluise Fleißer arrangiert Regisseur Ulf Frötzschner seinen launigen Typen-Boulevard schräg zum Publikum. Es wird viel gesungen, das beflügelt. Aber die Geschichte ist keine schöne, am Ende müsste der Abend dem Publikum eigentlich die Haut über die Ohren ziehen. Da kneift die Regie. Musik ist ihrer Tendenz nach eben Versöhnung. In der ersten Vorstellung dankt das Publikum mit wohlwollendem Applaus.

Beispiel 2: „Seefahrerstück“ von Oliver Schmaering. Die Inszenierung von Claudia Bauer ist ein Reise wert. Wir begleiten 7 Seeleute auf dem Weg nach Cuba, auf dem Weg zu ihren Figuren, auf dem Weg zum Theater. Gesungen wird auch, aber die Musikalität steckt dem Abend in den Knochen. Der Text allein wäre dieser Reise nur ein rostiger Kompass. Die Truppe zeigt in der Choreografie die Lust am Körper, im chorischen Sprechen das Verständnis für Tiefenwirkungen kollektiven Erlebens und in der Freude am szenischen Einfall die Verteidigung der autonomen theatralen Wirklichkeit, mit anderen Worten: des Menschlichen. Der Abend hat seine schwachen Stellen, keine Frage. Aber er zeigt am deutlichsten, wozu die programmatischen „Reisen ins Glück“ im Kopf ermuntern: Zum Austritt aus der normierten Gesellschaft, die ihre Bürger fürsorglich vereinnahmt. Glück heißt Mut zur Freiheit. Niederlage eingeschlossen. Eine schöne Antithese zur sozialen Rückfahrkarte des Leipziger Schauspiels: „Vom ich zum Wir und zurück“.

Beispiel 3: „Allein das Meer“ nach dem Roman von Amos Oz. Großes Theater aus einer der einfachsten Geschichten der Welt. Einem Mann stirbt die Frau, sein Sohn flüchtet vor dem Verlust und lässt ihm seine Freundin zurück. Und das Leben geht weiter. Regisseur Paul Binnerts setzt auf einen Ur-Reiz von Theater: Ein Schauspieler spielt eine Figur und zeigt doch immer sich selbst. Kein Akteur verlässt jemals die Bühne; sie beobachten und kommentieren einander beim Agieren: durch Konzentration. Die Energie ihres sensiblen Mit-Spiels potenziert die Energie des Abends. In den intensivsten Momenten gelingt dem Ensemble enorme Berührung aus größter Selbstverständlichkeit. ‚Reisen ins Glück’ heißt hier ‚Reisen ins Leben’. Auch für diesen Abend lohnt sich die Fahrt nach Halle ohne Frage.

Theater arbeitet in einer Nische. Das wisse er gut und daran sein auch nichts zu ändern, sagt Intendant Werner. Die Nische müsse aber so spannend sein, dass immer mehr Leute rein wollen. Bis 2007 soll der neue Chef ein Drittel (!) seiner Belegschaft einsparen. Züge nach Halle fahren jede halbe Stunde. Noch.

(KREUZER Leipzig, Januar 2007)

http://www.buehnen-halle.de/

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