Die Sicherheit einer geschlossenen Fahrgastzelle

Originaltonhörspiel zum 9. November 1989

Wartburg 353

Die Sicherheit einer geschlossenen Fahrgastzelle

Die Sicherheit einer geschlossenen Fahrgastzelle.
Hörspiel von Thilo Reffert. Mit Matthias Matschke und Juergen Schulz. Regie: Stefan Kanis. Dramaturgie: Thomas Fritz. Musik: cfm.
MDR 2009 (56’57 / Ursendung: 09.11.2009)
(Ausgezeichnet mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden 2010, dem Deutschen Hörspielpreis der ARD 2010 und dem ARD-Online-Award 2010 sowie als Hörspiel des Monats November 2009 der DAdDK)

„Ein stabiles und absolut wetterfestes Stahlschiebedach empfehlen wir solchen Kunden, die neben den Annehmlichkeiten, die ein Cabriolet bietet, die Sicherheit einer geschlossenen Fahrgastzelle nicht missen möchten.“ Das Auto, das mit solchem Prospekt-Charme angepriesen wurde, brauchte eigentlich keine Reklame, denn es war in der geschlossenen Gesellschaft der Fahrgastzelle DDR ebenso hochbegehrt wie langerwartet: der „Wartburg 353″.

Und es war eben dieses Symbol der Mangelgesellschaft, das in den Abendstunden des 9. November 1989 Geschichte schrieb – oder zumindest dabei behilflich war. Das war, nachdem die Magdeburger Ärztin Dr. Annemarie Reffert und ihre damals fünfzehnjährige Tochter Juliane in den „heute“-Nachrichten des ZDF die Meldung des Tages erfahren hatten: „…dass von sofort an DDR-Bürger direkt über alle Grenzübergänge zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland ausreisen dürfen.“

Als wenige Minuten später die „Aktuelle Kamera“ das Unglaubliche bestätigt hatte, beschlossen Annemarie und Juliane Reffert, etwas zu wagen, was diesem Herbst und ihrer aller Aufwachen aus Ohnmacht und Lethargie den Punkt auf’s i setzen musste: Sie stiegen in ihren „Wartburg“ und fuhren die knapp sechzig Kilometer zur Autobahn-Grenzübergangstelle Marienborn – Helmstedt. Nicht, dass sie dort im Westen etwas vorgehabt hätten oder dort bleiben wollten. Worum es ihnen ging, war „nur“ die Probe aufs Exempel. Wenn die Staatsgrenze West – als „Mauer“ der Inbegriff aller staatlicher Repression – auf einmal ihre jahrzehntelange Undurchdringlichkeit eingebüßt haben sollte, dann wollten sie sich am eigenem Leibe davon überzeugen.

Nicht mit von der Partie bei dieser kurzentschlossenen „Wartburg“-Fahrt über die Bühne der Weltgeschichte war Annemarie Refferts Sohn Thilo. Statt den ultimativen Augenblick der Befreiung mitzuerleben, steckte er in der Kaserne, wusste von nichts.

Ganz abfinden damit kann er sich noch nach zwanzig Jahre nicht. Etwas wie eine stets unerfüllte Sehnsucht treibt ihn um: in irgendeiner Form nachzuholen, was er damals verpasst hat. Könnte man nicht diesen unwiderruflich vergangenen Moment noch einmal so gründlich und genau, so handgreiflich aus der Erinnerung holen, dass man wenigsten im Nachhinein doch noch „dabeigewesen“ ist?

Thilo Reffert, 1970 in Magdeburg geboren, studierte Theaterwissenschaft und Neuere Deutsche Literatur in Berlin. Seit 2000 schreibt er Theaterstücke, sein Hörspiel-Debüt „Hellas Sonntag“ wurde 2002 vom MDR gesendet. Seit 2009 ist er Autor des ARD Radio Tatorts von MDR FIGARO („Schlusslicht“ MDR 2009; „Engelsstaub“ MDR 2010). 2010 veröffentlichte Thilo Reffert auch sein erstes Kinderbuch „Nina und Paul“.

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Andreas Hüttner freut sich in „Theater heute“ über ein enorm diskurstaugliches Stück, das dabei „komplex, präzise und zugleich leichtfüßig unterhaltsam“ agiere, so dass „das Theater, sofern es nicht eine Sternstunde von Rimini Protokoll erwischt, von diesem Wart­burg nur noch die Rücklichter sieht.“

Besprechung in Theater heute 01/2011 von Andreas Hüttner

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