Utopie mit Schweißband

LIGNA arbeitet im LOFFT an Bewegungen für den neuen Menschen

Schlendern, aber ohne Blick für die Schaufenster. Tanzen, aber nicht zur infantilen Hintergrundmusik der Promenadendecks. Auf Ziele zeigen, aber nicht auf solche, die man mit Zügen erreichen kann. Ein Rudel junger Menschen trieb 2003 auf dem Bahnhof eine verstörende Gruppenchoreographie: „Übungen im nicht bestimmungsgemäßen Verweilen.“ Das hatte Esprit, und traf, wohin es treffen sollte: Auf das Publikum, die blinden Reisenden und prostituierten Käufer, Leute wie du und ich.

LIGNA, eine Hamburger Performer-Gruppe, teilten damals die kleinen Kommando-Radios aus. Im LOFFT beginnt nun alles ähnlich. Kopfhörer auf und Gott sagt dir, wo’s langgeht. Das ist vom Start weg nicht unsympathisch, hofft man doch, dass die Zufälligkeit, mit der die Passanten und Akteure sich auf dem Bahnhof gegenseitig ihre Lektion erteilten, sich im Theaterraum neu verdichtet. Und so darf man wiederum Stimmen folgen und tun, was verlangt wird. Um zögernde Schritte in den Raum bitten die Stimmen, um Sprünge und Drehungen, um die Fähigkeit, die gegenüberliegende Stuhlreihe mit genau der Schrittzahl zu erreichen, die man sich vorher als passend ausgerechnet hat. Doch LIGNA vervierfacht die Kanäle. Vier Gruppen zu je 10 Leuten folgen im Saal einem Programm an Leibes- und Geistesübungen, das die Hand des einen mit der Wange des anderen verzahnt. Eben sitzt man noch am Rand und soll die symbolischen Faustkämpfer in der Mitte anfeuern und weiß doch schon, dass man alsbald selbst im Ring stehen wird. Es braucht keine zwei Minuten, bis das klar wird. Solche Verzahnungen könnten als Raster der Dramaturgie natürlich herzrasende Erkenntnismöglichkeiten eröffnen. Die vorweggenommene Zukunft entsteht in der Leistung des Vortuners als Alptraum und Vorfreude aufs eigene Agieren. Wenn da nicht das System wäre. Denn die Ideengeber des vierfachen Bewegungsparcours, den die Teilnehmer zu bewältigen haben, heißen Brecht, Meyerhold, Laban und Charlie Chaplin. Aus ihren Einlassungen zur Körperarbeit (oder ihrer grotesken Verneinung im Falle Chaplins) entwickeln die Tanzmeister von LIGNA einen Lochstreifen, der von der Publikumsmaschine schlichtweg abzuarbeiten ist. Das nimmt nicht Wunder. Denn im Geist der Avantgarden wohnt das Totalitäre, das weder Zeit, noch Individuum, noch ein Gegenüber kennt. Und so kommandieren die freundlichen Stimmen die schwitzende Schar von Stellung zu Stellung. Nichts kann wirklich erprobt und verarbeitet werden. Das Tempo der Verhandlung produziert vor allem eines: Schweiß und dicke Luft. So fügt sich die Unternehmung zur unerwarteten Rückkehr der Sportstunde. Mit all ihren fragwürdigen Obertönen. Erst ganz am Schluss, wenn die bunte Diskokugel glänzt und Gottes Stimmen in den Ohrstöpseln schweigen und da nur noch Musik ist, dürfen alle glücklich sein und Tanzen.

Stefan Kanis
(Leipziger Volkszeitung, 14.12.2009)

ligna.blogspot.com

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