Die vier Himmelsrichtungen

Menschentreiben, elementar und spielerisch wie das Wetter

Anja Schneider, Ulrich Noethen, Elisabeth Trissenaar, Bernhard Schütz (Foto: MDR/Prosch/Kanis)

Ausschnitt aus „Die vier Himmelsrichtungen“

Die vier Himmelsrichtungen. Hörspiel nach dem Bühnenstück von Roland Schimmelpfennig.
Mit: Ulrich Noethen, Elisabeth Trissenaar, Anja Schneider und Bernhard Schütz. Dramaturgie: Thomas Fritz. Musik: Michael Rappold. Schnitt: Christian Grund. Ton: Holger König.
Hörspieleinrichtung und Regie: Stefan Kanis (Erstsendung: MDR FIGARO 30.03.2014 | 50’38)

In jeder guten Geschichte, geht der verloren, der sie erzählt. Das ist schade. Manchmal wüsste man gern mehr über die Menschen, die zu uns sprechen. Aber so sind spannende Geschichten; gibt man ihnen den kleinen Finger, ist man gleich in ihnen verschwunden. Das gilt im Besonderen für Schauspieler.
Die Geschichte der „Vier Himmelsrichtungen“ schlägt bezaubernde Kapriolen. Es ist von liebenden Herzen die Rede, von einer Kneipenschlägerei, von Luftballons zum Kneten, von einem Mann mit zwei Zungen und ein paar kleinen Lügen. Die erste Lüge ist: Die Geschichte, die das Hörspiel erzählt, hat vorher nicht existiert. Die Schauspieler haben sie im Studio erfunden.Das muss man sich so vorstellen: Ein schlanker Schauspieler steht vorm Mikrofon, überlegt eine Weile und sagt: „Ich bin Perseus“. Er sieht seine junge Kollegin an. Und damit wir am Radio verstehen, dass er das gesagt hat, der Mann im Studio, der sie so bezaubernd anlächelt, sagt sie zu uns Hörern, durchaus von ihm angetan, mit warmer Stimme sagt sie: „sagt er“. Das ist nicht viel Text, schon möglich. Aber es klingt wie eine Einladung. Und der schlanke Schauspieler freut sich, dass sie mit ihm spielt und sagt zu ihr: „Und du bist Medusa“. Das ist gleich die erste Überraschung. Schlechte Aussichten. Kopf ab, aber spannend.Bleiben wir noch ein bisschen in der guten Hoffnung, als ginge das wirklich, dass alles gar nicht fertig ist, dass alles auch ganz anders sein könnte. Dass alle nur spielen. Und dass wir traurig sind, dass nicht alles auf einmal möglich ist, dass es jammerschade ist, dass eine Geschichte immer eine andere verdeckt und verstellt. So als merkten wir gar nicht, wie man sich in seine eigene Geschichte verrennt, wie man anfängt, sich in sie zu verlieben.

Und die Geschichte der „Vier Himmelsrichtungen“, die zig andere Geschichten in sich versteckt und aufbläst wie Luftballons, geht ungefähr so: Stellen sie sich einen Mann vor: arbeitslos, still, hoffnungsvoll. Er lebt mit einer älteren Frau zusammen. Zehn Jahre schon oder zwölf. Jeden morgen macht er sich auf den Weg durch die neblige Siedlung. Eines Tages findet er beim Spaziergang in einer Kurve der Landstraße vierhundert Kartons mit Luftballons. Luftballons aus denen man Tiere kneten kann. Er könnte eine Karriere beginnen, könnte Artist werden, könnte sein Leben ändern.

Die Frau an seiner Seite sieht das anders. „Nicht mehr lang und du wirst ein Mädchen kennenlernen. Eine Blonde oder eine Dunkle, auf jeden Fall wie ich mit Locken. Die ist dein Untergang.“ Und schon steigt in der Geschichte eine junge Frau aus dem Überlandbus. Und sie hat Locken. Wie Medusa. Er wird sie kennenlernen, sich verlieben, vielleicht. Wird die Geschichte das möglich machen?

Die junge Frau hat freilich andere Sorgen. Und sie hat Kopfschmerzen. Und sie hat einen Typen. Den Lastkraftwagenfahrer, dem eines Morgens in einer Kurve am Rand der Siedlung vierhundert Kartons von der Ladefläche gerutscht sind. Genau den.

Das könnte der Anfang einer Geschichte sein.

„So sprechen alle vier Figuren nicht nur sich selbst, sondern sie sprechen auch über sich selbst und ihr jeweiliges Handeln. Der mikroskopisch-selbstreflexive Blick erhöht die Fallhöhe der Charaktere und schafft gleichzeitig eine äußerst gut funktionierende  hybride Verknüpfung von erzählendem und darstellendem Hörspiel.“ (Rafik Will, „Funkkorrespondenz“ 15.2014)

Die Sendung bei figaro.de

 

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