Bin das wirklich ich?

Christa-Wolf-Roman in szenischer Lesung im LOFFT

Montagabend auf der Werkstattbühne am Lindenauer Markt. Eine junge Frau, dunkle Haare, schwarzer Rolli, Jeans, tritt an einen klassischen Lesetisch. In die Jahre gekommenes Holz, die Beine etwas schräg, in der linken Ecke eine Wasserflasche, gläsern und ohne Etikett, daneben das Trinkglas. Ein Scheinwerfer schräg von hinten, der andere von vorn. Eine Jacke liegt über der Sitzfläche des Stuhls. Als der Abend zu Ende ist, liegt sie noch immer dort. Eine Kleinigkeit ohne Bedeutung, vielleicht nur ein Versehen? Nicht bei Christa Wolf. Warum kann es nicht die Jacke der Hauptfigur Christa T. sein, die mit der Autorin den Vornamen teilt? Es wäre doch möglich. Eine zarte Reminiszenz an das pulsierende Thema des Romans: Das Leben als Möglichkeitsraum. Nichts ist ausgemacht, kein Weg vorgezeichnet. Und wenn, dann steckt die Zeichnung, die uns in ihre Bahnen zwingt, nur in uns selbst. Soll man sie deshalb schon „Ich“ nennen?

Diese Christa T. ist zum Ende des zweiten Weltkrieges erwachsen, wird Neulehrerin, studiert in der frühen Fünfzigern Pädagogik, heiratet eine Tierarzt, wird mehrfach Mutter, ertrotzt sich gegen die Verhältnisse ein Haus, das sie selbst gezeichnet hat – und stirbt mit Mitte dreißig an Leukämie.

Der 1968 erschienene Band „Nachdenken über Christa T.“ ist vielleicht das facettenreichste Buch der Autorin – für viele die wichtigste weibliche Stimme der DDR-Literatur. Ihre Bücher haben längst nicht nur gegen einen repressiven Staat angeschrieben, sondern die Schwierigkeit, „ich“ zu sagen, als offene Wunde in jedem Menschen gesucht.

„Überall zu Hause und überall fremd, zu Hause und fremd in der gleichen Sekunde“, sei sie gewesen, so die Erzählerin über Christa T. Im LOFFT ist Sofia Flesch Baldin diese Erzählerin. Vor sich die Seiten des Manuskripts, geht sie in intensiver und doch zügiger Sprache durch den Text. Sie hört Wendepunkten nach, setzt Pausen, richtet den Blick auf einen Punkt vor ihrem Pult; so als tauche sie ein in diesen ‚Möglichkeitsraum’, als gälte es, das Bild dieser Christa T. immer neu zu fixieren. Alle Wegmarken der Heldin werden von der Strichfassung bedient: manches, wie die Affäre der bereits verheirateten Frau, wird vorsichtig betont. Der im Ganzen angenehm zurückhaltenden Spielhaltung fehlt nur vor diesen Druckpunkten ein wenig die differenzierend gestaltende Kraft.

In fast rabiatem Zugriff verlängern zwei Filme von Grischa Lichtenberger, die auf die Bühnenrückwand projiziert werden, die Strahlung des Textes ins heute. Im ersten gräbt ein junger Mann am Rand eines Nadelwaldes eine Grube, darüber wird es Tag und Nacht. Die Kameraperspektiven auf diesen Totengräber wechseln. Der Oberton dieser Bilderfolge – der Gang des Lebens zu seinem schließlich Ende – schlägt in undidaktischer Geste eine Brücke zwischen dem ‚Möglichkeitsraum’ der sechziger Jahre und dem modernen ‚Open space’. Kurios: Die hochaufgelöste Spracharbeit des letzten Jahrhunderts stößt sich nicht an der video-bildnerischer Lakonie unserer Tage. Christa T. erscheint in ihrem Versuch, sich nicht voreilig und leichtfertig auf ein Leben festzulegen, als Patin des Werkstattgedankens am Lindenauer Markt: „Sie nahm alles ernst, aber sie lachte dabei.“

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