Die Welt, eine Imitation

Peter Turrinis „Alpenglühen“ am Wiener Burgtheater uraufgeführt

Ein Sonnenaufgang in den Alpen. Schön wie im Märchen. Durch eine Glasfront fällt der rote Widerschein ins Haus. Jemand rappelt sich hoch. Ein alter Mann, ein Blinder. „Still und finster, wie immer“ – seit vierzig Jahren quittiert er das verschwenderische Naturschauspiel mit diesem Satz. Doch heute ist alles anders. Der Blindenverband hat ihm seine einzige Bitte in all den Jahren prompt erfüllt – eine Frau. Zwar mochte sich der Alte seine Begleiterin feinsinniger gewünscht haben, mit Neigung zur klassischen Literatur, doch dem Ver­band ist das Verlangen klar. Er schickt eine Hure.

Kirsten Dene als Jasmine greift denn auch mit beiden Händen nach die­ser Rolle. Sie meidet in ihrem Spiel nicht die krassesten Klischees. Doch versteht sie es meisterlich, diese Standards durch einen von Grund auf natürlichen Ton, den sie mit traum­wandlerischer Sicherheit trifft, neu zu beleben. Traugott Buhre ist ihr Widerpart, der Blinde. Ihm bleibt nichts an­deres, als zu fühlen, was im Raum vorgeht. Jedes für ihn po­sitiv deutbares Geräusch setzt er um in ein Lächeln, eine Körperbewegung, die sich zuwenden will. Doch da sind viele, zu viele Störungen. Was hat der Junge, der ihm das Essen bringt, mit seiner Göttin zu schaffen. Immer wieder stößt er ein atemloses „Was geht hier vor?“ in den Raum.

Diese ersten Konflikte sind freilich nur der Auftakt für eine gegenseitige Demaskierung. Wie in allen Stücken Turrinis ha­ben seine Figuren auch hier etwas zu verbergen, haben einen Teil ihres Ichs weggeschlossen. Von der Last der Anpassung gebeugt, gilt es für gewöhnlich, die erkämpften Territorien zu sichern, die Masken des Alltags zu verteidigen.

Die erste Verstellung gibt Jasmine preis. Die Hure sei nur gespielt, als völlig vereinsamte Mitarbeiterin des Blinden­verbandes, sei es ihre einzige Chance noch einen Mann kennen­zulernen. Später dann gibt sie sich als glücklose Schauspie­lerin zu erkennen. Die Julia, die sie nie spielen durfte, soll nun der Blinde schätzen. Dessen Vergangenheit ist ebenso erlogen. Sein Augenlicht ging ihm nicht bei der Beobachtung amerikanischer Atombombentests verloren, sondern durch einen verunglückten Sprengstoffanschlag als kleiner Nazi. Der Rück­zug auf die Alm ist nichts anderes als die Furcht vor Strafe. Doch das Vorspielen falscher Tatsachen hat auf die Natur übergegriffen. Und der Blinde spielt mit. Gegen Bezahlung er­läutert er den deutschen Touristengruppen die Bergwelt nebst Imitation der längst ausgestorbenen Tiere.

Im Unterschied zu früheren Texten löst Turrini seine harte, plastische Sprache auf. Die Menschen sind deformiert, aber nicht immer wird man es spüren. Die Deformation ist entrückt, hat sich vervielfältigt. Gefühle und Stimmungen sind zur Imi­tation freigegeben. Der Blinde erfährt es am deutlichsten, muß er sich doch jede Nachricht aus dem Radio in Bilder über­setzen. Doch das Tempo beschleunigt sich. Er kann dem Bilder­sturm nicht mehr folgen. Autosalons, Kriege und Wiederverei­nigungen vermengen sich. „Trauer und Freude wechseln einander nicht mehr ab, sie sind aufgelöst.“ Wie der Blinde die Welt verweigert, indem er sein Radio nicht mehr nutzt, läßt sich die Frau vom Blinden in ihre Scheinwelt der Schauspielerei zurückrufen. Während sie sich noch einmal in die Rolle der Julia begibt, bringt sich draußen der Junge um, noch bevor er zu seiner Sprache gefunden hat. Geschieht die Katastrophe in ihrer nächsten Umgebung, dann schließt Jasmine schnell das Fenster und der Blinde lächelt und sagt: „Still und finster, wie immer.“ Nun kommen doch noch ‚Glückliche Tage‘, außerhalb von Schuld und Wahrheit.

Zu all diesen Gedanken gibt die Regie von Claus Peymann nur einen Anstoß. Der Abend ist sorgsam und konzentriert erarbei­tet, selten impulsiv, nie maßlos. Turrinis Text läßt dabei durchaus anderes zu. Man darf auf die anstehende Chemnitzer Inszenierung gespannt sein.

Stefan Kanis (Freie Presse Chemnitz, 1992)

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