Stirn, vergiß nun alles Denken

André Hellers „Sein und Schein“ am Wiener Burgtheater uraufgeführt

Der Meister tritt vor den Vorhang der Burg. Nein, niemand sei erkrankt. Heller erzählt von einem Theatererlebnis in Indien. Dort habe er eine „magische Verbindung“ zwischen Akteuren und Zuschauern erlebt. Ähnliches wünsche er sich an diesem Ort. Schwer genug sei es gerade hier, meint er.

Und wie um seine Worte zu bestätigen, teilt ein riesiger Kaspar den Vorhang und nimmt das Logenpublikum an die Hand wie die Zeltgäste beim Jahrmarktsspektakel. Erst als die Zuschauer laut genug ihre Anwesenheit herausschreien, öffnet sich der Vorhang über einem bizarren Bilderbogen.

Ein Zauberer – Martin Schwab legt all dessen Passionen in seine weich modulierende Stimme – hat eigentlich nach Tokio gewollt. Nun aber findet er sich im Burgtheater wieder. All die kuriosen Genien seines Theaters, die er vor Jahren verlassen, sind zur Stelle, den Maestro zu begrüßen. Ein Hau­fen von skurrilen Paradiesvögeln, lebenden Skulpturen, schil­lernden Grotesken, wirklichen Unwirklichen buhlt um die Gunst der Zuschauer. Szenenapplaus für Hellers kongeniale Ausstat­ter. Fortan unternimmt der Zauberer  eine Reise durch das Licht- und Schattenland seiner Kreationen. Schwer faßt sich in Worte, was Heller doch nachdrücklich dem unreflektierten Schauen anempfahl. Theater sei das Reich des Träumenden ebenso wie das des Magiers – und so fügt sich eins ans andere.

Da gibt es Kämpfe: Der an den Füßen aufgehängte Entfesse­lungskünstler ringt gegen Schiller. Das Seil, daß ihn über dem Abgrund hält, endet am Stuhlbein des Zauberers. Der deklamiert den „Handschuh“. Mit dem letzten Vers, den er in rasendem Tempo erreicht, springt er auf. Das Seil poltert zu Boden. Yoshi Tomo freilich hat sich mit einer Zeilenlänge Vorsprung befreit. Das Leben zeigt der Kunst die lange Nase und Heller zwinkert mit dem Auge.

Da ist Amüsement: Die Peymann-Hosen-Show, mit Vorgeschichte. Der österreichische Dramatiker Thomas Bernhard begleitete einmal seinen Busenfreund den (deutschen) Burgtheaterdirektor Peymann beim Kauf einer Hose. Diese Schrecklichkeit nahm er zum Anlaß, um in gestochener Brillanz über das Kaufen von Ho­sen im Allgemeinen sowie über die Provinzialität und Ignoranz der Wiener im Besonderen ein Büchlein zu schreiben. Seitdem rätseln eben diese Wiener welche Farbe jenes peymannsche Beinkleid wohl habe. Im Buche steht’s nicht, Bernhard ist tot, und einen Deutschen kann man nach so etwas nicht fragen. Die Lösung dieser trau­matischen Frage ist Heller allemal  eine grandiose Varie­ténummer wert. Während die persönliche Referentin mit dem Corpus delicti – Farbe: mausgrau – aus  dem Theaterhimmel schwebt, tanzen unten die mannshohen Hosen aller Burgtheater­direktoren des 20. Jahrhunderts zu „It’s no business like showbusiness“. Umwerfend!

Drittes Stichwort: Die Illumination. Genau solle man Sehen und Hören, beides sei wahrlich nicht leicht, sagt der Zaube­rer. Dann spielt der moderne Theaterapparat: Blitzende Feuer, ungestüme Zwitterwesen, Prospekte aus riesigen Gemälden, Pro­jektionen und Beleuchtungswunder tauchen aus der Dunkelheit wie die Seiten eines Malbuches der Obsessionen aus 1001 Nacht.

„Sein und Schein“ ist mit diesen Sätzen nicht beschrieben, drei Elemente nur sind angerissen. ‚Alle macht der Phantasie‘ mag als Leitfaden gelten, in seiner Spanne freilich vom Kin­derspiel bis hin zum Wahnsinn. Die stete Präsenz des Todes ist nicht zu übersehen; sie erscheint in der Macht des Zaube­rers wie in der Provokation der Naturgesetze durch die Arti­sten: Es könne wohl sein, daß just in dem Moment, da Hamlet den Polonius ersticht, ein Zuschauer seinen Nachbarn um das Programmheft bitte. Dergleichen sei unvorstellbar, wenn der Artist hoch unter der Zirkuskuppel den doppelten Salto mortale schlägt, schreibt Walter Benjamin über jene Kunst, die aus der latenten Gefahr, dem ‚anwesenden Tode‘ ihre Kraft bezieht. Sie ist auch die des André Heller.

Freilich nicht immer wird dieser magische Grund deutlich, wenn er als Feuerwerker oder Varieté-Impresario in den Groß­städten der Welt seine Spektakel inszeniert. Auch der Abend in der Wiener Burg kann seine Bestandteile nicht immer zusam­menschließen zu einer Synthese der Bezauberung. Manches Guck­loch, durch das man schaut, bleibt ein wenig trübe. Manch schlichtweg zu lang geratene Textpassage – und sei’s die be­rühmte Reinhardsche „Rede an die Schauspieler“ – stört gele­gentlich die empfindliche Dramaturgie des Staunens. Und trotzdem, wenn nichts anderes bliebe – dann doch ein Abend, der den Zuschauern viele Farben, Töne und Geräusche schenkt.

Stefan Kanis (Freie Presse Chemnitz)

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