Zwischen Frühstück und Gänsebraten

Weihnachten taugt im Leipziger Theater für alles. Biblischen Stoff gibt’s streng vom Blatt bis hin zur Performance

Zweimal im Jahr, das ist offenkundig, kommt das Theater Bür­gerinteressen wirklich nach: Im Sommer dem erotisch aufgelade­nen Unterhaltungsbedürfnis (Schlagwortkette Wein-Weib-Gesang) mit den entsprechenden Freiluftinszenierungen. Vor Weihnachten dann dem nach Läuterung der Gelüste vom Sommer. Die Freitzeit­gesellschaft ist moralischer Zurüstung offen und die braven Mimen suchen – gewissermaßen zwischen Frühstück und Gänsebra­ten – anzudocken an der festlich gestimmten Bürgerseele. Die einzige dem Anlaß angemessene Darbietung jedoch, die saubere Durchführung des Krippenspiels, birgt mehrere Unverträglichkeiten.

Erstens: Die Weihnachtsgeschichte inklusive unbefleckter Emp­fängnis und verkürzter Schwangerschaft läßt selbst den geist­licher Erbauung in glücklichen Stunden zugänglichen Materiali­sten, den guten Christdemokraten, in Zweifel geraten, ob sich das denn wirklich so zugetragen haben kann. Zweitens: Das Prinzip der scheinbaren Abwechslung, der Serie, ist im Medien­zeitalter unabdingbar. Jedes Jahr irgendwie anders müßte die Sache schon sein. Das hieße jedoch, drittens, launenhaften Schreiberlingen zu gestatten, in den Evangelien herumzuwur­sten. Was uns die Sache teuer macht, die unerklärlichen Wahr­heiten der abendländischen Zivilisation, im Handumdrehen wären sie im ästhetischen Eimer.

Dies alles also möge Gott oder der Gesetzgeber oder beide zusammen verhüten. Doch, was spielen?

Zunächst greift man nach der Essenz der sakralen Story, die da nicht anders lautet als: „Gute Menschen bleiben auf unerklär­liche Weise gute Menschen“. Deutlich wandelt sich das Heilige zum Phantastischen und schon findet sie statt: Die Geburt des (Weihnachts)Märchens aus dem Geiste der Religion. Pippi Lang­strumpfs Riesenkräfte (Schauspielhaus) messen sich mit dem Zauberer der Smaragdenstadt (Muko), in der Off-Szene agieren lebende Milchtöpfe, Tassen und Radios, begleitet von Heerscha­ren sprechender Tiere. Die meisten Angebote der theatralen Festtagsbewältigung – es ist nicht zu übersehen – gelten dem Nachwuchs (siehe Kasten). Die lieben Kleinen sind ja ohnehin Zielgruppe und T-Träger der pädagogischen Komponente des Weih­nachtsfestes. Hier wird die „Frohe Botschaft“ in phantasti­scher Einkleidung noch ohne Zweifel hingenommen. Und sollte das berühmte „Leuchten in den Augen“ angesichts der obsiegen­den Theater-Märchen-Prinzen aller coleur ausbleiben, so beschert’s die Bescherung. Ein wenig stiehlt sich – es bleibt nicht unbemerkt – die Eltern-Gesellschaft aus ihrer kulturel­len Andachtsübung.

Nun wimmelt es natürlich von wackeren Künstlern, denen das nicht genügt. Die Alten selbst sollen vor die Kanzel. Doch kein Rauch ohne Feuer: Die oben noch mühsam zurückgehaltenen Ästheten bemächtigen sich nun doch der Weihnachtsgeschichte, schaffen sich Platz im überfüllten Bethlehem, flechten einen bunten Kranz aus Leidenschaft, Formbewußtsein und doppelten Böden um die heilige Einfalt des christlichen Gedankens.

Im Stillen wußte es doch jeder: Weihnachten gibt natürlich ein prima ästhetisches Phänomen ab. Im Schauspielhaus zum Bei­spiel: „Jauchzet, frohlocket! Auf preiset die Tage…“ – Bacchus meets Bach. Chor, Publikum und Musiker tanzen wilde Tänze, vereint in mystischer Gottesschau. Das wär‘ doch mal was. Die Freude gönnt uns Irina Pauls nicht. Sie zeigt uns jemanden vor – uns. Da kann man sich ja nur ärgern wie immer. Ob nun Weihnachten ist oder nicht.

Stefan Kanis (KREUZER Leipzig, Dez. 1994)

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