Mythos für Arme

»Die Troerinnen des Euripides« im Schauspiel Leipzig

Auf der Bühne die stählerne Silhouette eines Schiffes, davor das besiegte Troja. Der Krieg ist vorüber, aber des Odysseus‘ Irrfahrt hat noch nicht begonnen, ebensowenig wie das Schlachten in Agamemnons Burg. Eine Leerstelle.

Die Troerinnen, die Frauen der Besiegten, sollen von den Siegern, den Griechen,  in Besitz genommen und verschleppt werden. Hektors Sohn, ein Säugling, wird getötet.  Eine Atempause zwischen den großen Epen des Mythos, ein Stillstand, eine Möglichkeit des Eingedenkens, der Wahl. Ein Stück ohne Handlung? – Sartres Protest wäre sicher. Für ihn handelt der Mensch nicht wo er seinem Charakter oder den Zwängen der Verhältnisse folgt. Er handelt, wo er sich exemplarisch neu entwirft. Wählen zwischen Tod und Existenz. Die Troerinnen.

Nun hat Theater nichts weniger zu tun, als Theorien nachzupilgern. So mag auch Regisseur Horst Ruprecht gedacht haben und setzt alles in Bewegung, was über die Eigenart der Textvorlage hinwegtäuscht. Zuvörderst bemüht er sich um Anhebung des Realismusgehalts aufs Niveau der Massenmedien. Das Figurenensemble wird gespaltet in Troerinnen und andere. Die ersteren verbleiben im mythischen Raum, die letzteren durchlaufen eine Roßkur der Aktualisierung: Poseidon und Athene im Business-Dress, er mit Henkelaquarium, sie mit Geldkoffer. Die griechischen Soldaten im Gewand der schnellen Eingreiftruppe: Haßmaske, Kalaschnikow. Helena agiert im blutgeränderten Schlitzkleid, Figur und Frisur aus „Othello darf nicht platzen“. Evelyn Luef beschert der Inszenierung ein Kostümbild, daß nichts weiter offenlegt als eine peinliche Strategie des ersten Einfalls.

Die Konsequenz dieser konzeptionellen Grobheit läßt nicht lange auf sich warten. Betreten die Aktualisierten die Szene werden sie augenblicklich zu Fremdkörpern. Sie, die aus einem bestimmten historischen Gefüge stammen, mutieren zu Ikonen, verdammt schlußendlich zur Nicht-Aktivität. Das lädt gelegentlich zum Schmunzeln ein: So wenn sich die Frauen von Troja gegen die „opportunistische“ Helena empören und auf sie losschlagen. Zwei Kollegen der Eingreiftruppe drängen die Wütenden an den rechten Bühnenrand. Derweil das Geschehen, der Text, im Bühnenzentrum sich fortsetzt, steht die Gruppe, gleichsam bestraft für das zuviel an Aktion, nun minuntenlang stillgestellt und unfreiwillig verzahnt.

Der alte Hase Friedhelm Eberle dagegen läßt sich auf solches Glatteis nicht führen. Er kommt möglichen Unklarheiten seine Person betreffend (Generalsuniform, Auftrittsmusik Liszts „Les Preludes“) mit seinem ersten Satz zuvor: „Ich darf mich vorstellen. Ich bin König Menelaos“. Seine Ruheposition bezieht er ungefährlicher auf einem Klappstuhl, sich mit der Hand vorm Gesicht gegen die Troerinnen und etwaige Inszenierungseinfälle abschirmend. Er kann warten. Seine große Stunde schlägt, wenn er den Brecht im Sartre aufspürt, an die Rampe tritt und via Sprache den Gestus einer denkbaren Inszenierung vorführt.

Die konträre Möglichkeit markiert Tanja Schupnek als Andromache, Mutter des getöteten Kindes. Sie stellt ihren urindividuellen Schmerz nicht aus, sondern schleudert ihn aus der Brust, läßt ihn Hals und Gesicht verzerren. Der Körper als ihre einzige und letzte Waffe.

Die Moral, die sich im Mythos erst zögernd sedimentiert, Ruprecht zieht sie an den Haaren hervor. Er treibt der Handlung politischen Geist ein. Doch wie sagt Fühmann: „Wer Aladins Lampe reibt, dem dient der Geist; im Mythos dürfte nicht jeder die Lampe berühren, geschweige daß ihm der Geist erschiene.“

Stefan Kanis (KREUZER Leipzig, 06/1994)

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