Jesus is bleeding

„Jauchzet, frohlocket!“ – ein Tanztheaterabend am Schauspielhaus Leipzig

Das Publikum nimmt Platz im Hintergrund einer Kirche. Wie es sich für einen feineren Spielraum Leipziger Prägung gehört, wird dieser Ort über ein zentrales Element markiert, das neben der naheliegenden auch assoziativeren Verortung zuläßt. Die Säulen, die in den Schnürboden ragen, zeigen unverputzte Ziegel. Sie mögen neben Kirchenarchitektur auch für Wartesaal und Nachkriegsarchitektur gelten.

Im Parkett ist noch Licht, doch die Bühne belebt sich schon. Musiker trudeln ein zur Dienstleistung. Weihnachtsoratorium – klar doch, wie immer. Unnachahmliches, distinguiertes Begrüßungsgeplänkel. Dann kommt man im Seitenschiff, auch nur ein besserer Graben, zu Ruhe. Der ironische Blick trifft die kirchliche Aufführungspraxis wie die Gettoisierung der Theatermusik gleichermaßen. Das Spiel also hat schon begonnen und beginnt ein zweites Mal: Die Gemeinde versammelt sich. Bürger und Penner. Ausgestellte Eitelkeiten, Tändeleien um den passenden Binder. Irgendwann sitzt der Haufen. Die Christmette hebt an.

Der Tanzabend zeigt eine zweigliedrige Szenenfolge, inspiriert von Sequenzen der Bachschen Musik. Drei Variationen auf das Mutter-Kind-Verhältnis im Kanon von Zuneigung und Unterdrückung sind eingebettet in Vorgänge, die uns den Christenmenschen als nettes Tier von nebenan vorführen. Dieser Rahmen schafft einige Übersichtlichkeit. Überdies integriert Irina Pauls drei SchauspielerInnen ins Ensemble, deren spezifische darstellende Ausdrucksmittel zusätzliche minidramatische Inseln schaffen. So gewinnt allmählich eine kleine Geschichte ihre Konturen. Wir erleben die Mitbürger bei der modischen Zurüstung auf den Abend, bei Fluchtversuchen aus geheucheltem Gemeinsinn, bei einem Ausbruch der Sinnlichkeit, die das Berauschende der Bachschen Komposition nicht ohne Ironie nutzt. (Keinesfalls ohne erotischen Reiz: Tenor Petzold als swingender Pfarrer.)

Nicht immer gelingt es freilich, den Tanz innerhalb und gegen die Erzählung zu behaupten. Wenn Tanz eine Sprache spricht, die getrost darauf verzichten kann, aus dem Körper in den Kopf zu kommen, so ist es ein schwieriges Ding, aus einer Idee, einem Schädelding Tanz zu schlagen. Auf diesem Grat wandelt Irina Pauls über weite Strecken sicheren, gelegentlich wohl etwas routinierten Fußes; hin und wieder nur scheint sie der berichtende Ton zur schlichtweg illustrativen Überhöhung/Dopplung von Alltagsgebaren zu verführen. Alles andere als inspiriert kommt vor allem der Fluchtversuch eines von Selbstzweifeln geplagten Mittvierzigers in der tänzerischen Umsetzung durch Werner Stiefel daher. Dieser Crux entgeht die Inszenierung immer dann, wenn sie die verschiedenen Stilmittel Erzählung, Tanz, Musik/Gesang nebeneinandersetzt, sie kontrastiert – nicht verschmilzt. Aus diesem Atem schöpft der künstlerische Höhepunkt des Abends: Die Christenmenschen haben beim Fleischer/Altar ihr persönliches Christkind/Braten in Empfang genommen. Pauls reiht sie auf in Front zum Publikum. In übersteigerter, pantomimischer Gestik reißen sie den Jesus-Puppen ein Bein aus. Sie kosten es, beschmieren sich mit Blut. Nach dem Mahl verlassen sie die Bühne. Tänzerinnen in schwarz erscheinen in der Katastrophenlandschaft. Sie führen den dritten Teil des Mutter-Kind-Motivs zu einem realistischen Ende: Ihre Hoffnung ist aufgefressen worden. Die Sängerin tritt zu ihnen: „Schließe, mein Herze, die selige Wunde fest in deinen Glauben ein.“ Trost? Sie drücken ihr die Kadaver in den Arm. Es gelingt ihr nicht, sie zu halten, sie einzuschließen in ihren Glauben. Sie stürzen ab.

Das Ende scheint grausam, und ist doch zutiefst christlich. Denn was ausbleibt, ist die Rache der Mütter. Anstelle blutiger Utopie erleben wir Duldung und Eingedenken. Und manche der Fresser zeigen mit dem Finger entschuldigend Richtung Himmel.

Stefan Kanis (Freie Presse Chemnitz)

Schauspiel Leipzig | »Jauchzet, Frohlocket« von Irina Pauls | Premiere: 25.11.94 | Choreografie: Irina Pauls | Ausstattung: Erwin Bode

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