Hase Hase

im Schauspielhaus Chemnitz

In Coline Serreaus feinem kleinen Stück kommen die Monologe wie arglistige Wesen über die Menschen. Weder Mutter Hase noch der Papa mögen sie eigentlich, die ewigen Reden. Vor allem solches Geschwafel nicht, das das Handeln ersetzt. Außerdem läßt ihnen das Leben keine Zeit. Zumindest der Mama nicht, der Mutter Hase. Nur ab und zu muß alles mal raus, denn dann „platzt einem der Kopf mit einem großen Kürbis drin“. Und wenn er raus ist, der Monolog-Kürbis, geht das Leben weiter. Dann muß man schauen, was die anderen zu essen gemacht haben, inzwischen.

Das Stück der Französin ist vieles in einem. Es ist ein Hohelied auf die warme, die kreatürliche, auch die täglich unsichtbar dienende Mutter, auf La Mama. Im Zentrum steht schließlich sie, Mutter Hase, eine Frau, die drei von fünf Kindern unter die Fittiche von Gatten, Verlobten und Berufen gebracht hat, und die das gut und richtig findet. Es ist aber auch ein wohlwollender Blick auf die Franzosen der kleinen Verhältnisse, auf die Aura der Südländer, auf Gastfreundschaft und Solidarität. Immer mehr Mäuler muß Frau Hase im Verlauf des Abends füllen, schließlich noch die Fremdesten werden bei ihr Zuflucht finden. Aber die Fabel bespricht auch die Klassenwidersprüche in ihrer Härte, sie reißt sie an in ihren Antagonismen – Gewerkschaft oder Terrorismus: Vater Hase verliert trotz des Kampfes der Kumpel den Job, die Söhne arbeiten im radikalen Untergrund.

Es klingen Generationskonflikte an. Die Töchter lassen ihre Gatten urplötzlich und wegen nichts im Regen stehen: Ein offensichtlicher Affront gegen das gute, aber dienende Herz der Mama. Und nicht zuletzt widersprechen die Töchter den Söhnen: Sie verlassen die Sackgassen der scheinbaren Selbstverständlichkeiten, die ihre Brüder kaum bemerkt haben. Von einem anderen Blickwinkel betrachtet, wird fragwürdig, was eben noch notwendig schien. So fällt sich das Stück stets selbst ins Wort und ist der beste Beweis, daß eine Wahrheit allein heute nicht genügen kann. Die Welt ist überall anders. Doch jeder Gedanke, jeder Mut braucht einen Herd, an dem er groß wird. Und so bleibt „Hase Hase“ in seiner Vielheit doch vor allem eins: die Mahnung, aufmerksam zu werden nicht nur gegen die Mamas selbst, sondern auch gegen das Prinzip, das sie verkörpern.

Nur deswegen mag die Titelfigur überhaupt auf der Erde bleiben. Denn der jüngste Sproß der Familie ist eigentlich ein Außerirdischer. Er – die von Geburt an vorhandenen Vorderzähne brachten ihm auch noch den Vornamen Hase ein – kennt nur eins, die Mama zu lieben und schlußendlich zu verteidigen.

Für die Chemnitzer Inszenierung baut Manfred Grund das Zimmer, die Küche, das Bad der Familie Hase als possierlich-winzige Räume, fein aufgereiht an der Rampe. Eng geht’s hier schon zu, wenn sich zwei Ratten treffen. In der Absicht, diese mehr als traulichen Verhältnisse noch deutlicher zu machen, konfrontiert Regisseur Alejandro Quintana diesen Platzmangel mit ausschweifendem Agieren, Keilereien, stürmischen Begrüßungen der Mama. Doch im wüsten Gedränge von Personen, Matrazen und untergestellten Möbeln wird es den Schauspielern doch nie wirklich eng. Zu selten nutzt die Regie die Vorleistung des Bühnenbildes, zu behende geht man zu Werke, zu selbstverständlich werden die Hindernisse, die sich allenthalben auftürmen, übersprungen, überwunden. Diese fortlaufende Bewegtheit, Unruhe, ja Hektik ist, wo sie wirkungsvoll sich zum Fiasko steigert, freilich ungemein erheiternd. Umgekehrt jedoch ärgerlich an jeder Stelle, wo sie das nuancierte Ausspielen feingliedriger Situationen nicht zuläßt, den Akteuren die Möglichkeit nimmt, ihre Figuren genau zu zeichnen. So stürmen, wenn Mutter Hase das erste Mal mit ihrem Einkauf bepackt die Bühne betritt, alle auf sie ein – so steht’s auch im Stück – doch vor lauter Stürmen geht der Kontakt zum Mitspieler verloren, geschweige, daß die Mama sich behaupten kann. Elvira Grecki gibt ihrer Mutter Hase auch immer dann Charakter und Kontur, wenn die Regie ihr die Zeit läßt, die neueste der ungeheurlichen Wendungen einen Augenblick zu verdauen, um dann ihre erdige Stimme zu erheben. Doch Zeit zu reden – ganz unbeschnitten – ist für die Grecki immernoch, wenn’s an die Kürbisse, an die Monologe geht. Die bringt sie unaufwendig, leichtfüßig in der ihr eigenen Mischung aus subtil modulierter Emotionalität und deren kokettem Widerspiel. Momente großen Theaters – und die Schauspielerin wieder in der Tradition bester Rollen vergangener Jahre.

Durch den vielleicht feinfühligsten Umgang mit den Situationen überrascht auch Frank Höhnerbach als Vater Hase. Die Gebrochenheit des Verlierers gelingt ihm ebenso wie die Wiederbesinnung auf die eigene aufrührerische Potenz. Die sicherlich beste Szene des Abends hat er mit seinem Jüngsten, als sie sich gegenseitig gestehen, von der Arbeit und vom Gymnasium gefeuert worden zu sein.

Ach ja, der Jüngste. Der sieht zwar alles, als Außerirdischer, aber mag von nichts etwas wissen als von Mama. Bis zu seiner furiosen Rettungstat also eher eine Randfigur? Mitnichten. Der Dank dafür gilt Silke Röder, die, nur unterstützt von zwei künstlichen (?) Zähnchen und einer zerzausten Frisur, ihren Hase Hase bis in die Fußspitzen hinein als eigenes kurioses Wesen gestaltet, so, daß man kaum glauben mag, die Röder sei es, die da spielt. Sie bedient sich sparsam pantomimischer Elemente, ebensowenig in die Grimasse verfallend wie sich in vorschnellen Überspitzungen erschöpfend. Eine ähnlich sensible, konsequente Gestaltung hat die Regie bei den anderen Geschwistern Hase über weite Strecken leider vermissen lassen. Katharina Groth, Beate Düber und Peter Kurth bleiben zu nah an bereits Gesehenem.

Im Schlußbild endlich beweist der Chilene Quintana sein Gespür für eine magische, hinein ins Irreale überformte Wirklichkeit. Ein Militärputsch hat stattgefunden. Der älteste der Geschwister ist verhaftet, wird gefoltert. Die Familie Hase beschließt seine Befreiung. Die Zimmer sind von der Vorderbühne verschwunden, der Blick geht hinein in den leeren Bühnenraum, Elektrozäune rechts und links. In diese Landschaft des Todes hinein tappt das linkische Befreiungskommando, wie die Olsenbande in den Ernstfall. Lachen und Weinen liegen eng beieinander. Berührend tragikomische Augenblicke zum Ende.

Hase Hase, ein Theaterabend, der ein wichtiges, ein poetisches Stück vorstellt. Ein Abend der vielfach überzeugt, ein Abend den man empfehlen kann.

Stefan Kanis (Stadtstreicher Chemnitz 1994)

»Hase Hase« von Coline Serreau | Regie: Alejandro Quintana | Bühne: Manfred Grund | Mit: Elvira Grecki,  Frank Höhnerbach,  Martin Nimz,  Katharina Groth,  Peter Kurth,  Beate Düber,  Silke Röder,  Andreas Möckel,  Renate Hundertmark,  Oda Pretzschner | Städtische Theater Chemnitz | Premiere: 09.04.1994

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