Festival im Off

MANöVER und euro-scene im Herbst 1995

Das Konzept der MANöVER-Festivals scheut Weltläufigkeit um ihrer selbst Willen wie das gebrannte Kind das Feuer. Es begibt sich auf die Suche nach Inszenierungen, die auch und gerade in hoher Künstlichkeit, von der Präsenz des Außerkünstlerischen inspiriert, spiritualisiert, auch vergewaltigt werden. Als Qualitätsmaßstab wird die Bewältigung dieses Widerspruchs in der jeweiligen Inszenierung erkennbar. Damit bezieht das MANöVER in der Diskussion um die Spezifik des Freien Theaters einen streitbaren, aber einen erkennbaren Standpunkt. Das Festival wechselt jährlich zwischen deutschen Off-Theater-Produktionen und einer konzeptuell focusierten Umschau im Ausland. Diese Konturierung ist noch jung, verspricht allerdings fruchtbarer zu werden als der Gemischtwarenladen des großen, ungleichen Leipziger Bruders euro-scene. Das 95er Festival unternahm den Versuch, aus der reichen Szene Ljubljanas, Hauptstadt des als Nationalstaat jungen Sloweniens, einen repräsentativen Querschnitt vorzustellen.

Mit BETONTANC ist Spitzenniveau des europäischen Bewegungstheaters vertreten, die Gruppe tourt weltweit. Die Compagnie Branko Potocan gehört zum Spektrum einer sich auf hohem Niveau formierenden, eine eigene Sprachlichkeit ausprägende Tanzszene. Die angry kids des Glej-Theaters schließlich erweisen sich als die sterilen Darsteller ihrer eigenen Schönheit, wie sie das Programm unumwunden ankündigt. Ihre „Show“ dürfe gerade deshalb bei einer halbwegs vollständigen Repräsentation der theatralen Verständigungsformen Ljubljanas nicht außer Acht gelassen werden. Selbst die unbeholfene Affirmation der MTV-Kultur, in der sich die angry kids gefallen, spiegelt noch etwas von den Qualitäten, die in ganz anderer Ausprägung und Meisterung die beiden anderen Compagnien auszeichnen: Beschäftigung mit Inhalten, mit Sujets heißt hier zuallererst Überwindung des alltäglichen Umgangs, der alltäglichen Form, diese Probleme, Inhalte zu denken und zu artikulieren.

Die einprägsamste Sprache findet dabei die seit 1990 zusammenarbeitenden Akteure von BETONTANC. Die Substanz ihres Theaters sind die Katastrophen der sozialen Existenz. Und rigide möchten sie die Katastrophe in ihrr Kunst dort stattfinden lassen, wo sie im Leben statthat: im Körper. Die Aggressionen, die Energien, die diese Suche aufschließt, beginnen in der Aufführung in einfachen, kraftvollen Bewegungsabläufen miteinander zu korrespondieren, sich zu steigern oder sich aufzuheben. Hier sind die überwältigenden Sequenzen diejenigen, in denen sich das Wechselspiel der aggressiven Energien in einem autokreativen Prozeß scheinbar ohne äußeren Einfluß weitertreibt.

BETONTANC ist eine vergleichsweise junge Gruppe. Der große Preis beim internationalen Choreographiewettbewerb in Bagnolet mit „Every Word A Gold Coin’s Worth“ 1992 öffnete den Slowenen den Zugang zu den großen Festivals, rückte eine Region ins europäische Interesse, die seit den 80er Jahren wohl ausschließlich mit dem Exportartikel „NSK“, der Neuen Slowenischen Kunst, verbunden wurde. Drei Jahre später hat BETONTANC nun einen zweiten Teil erarbeitet: „Know Your Enemy!“ ist mehr als die optische Drehung der Wand. Es ihre Auflösung als ideologische Regel, als nationale und familiäre Struktur. 1995 – Ljubljana ist im Westen angekommen, fast.

Regisseur Matjaz Pograjc will ein Theater, das schreit, nicht spricht. Schreien und Erzählen begegnen sich in der Körpersprache von BETONTANC. Der Grat ist schmal, die Berührung des einen durch das andere gelingt nicht immer. Es ist eine Arbeitshaltung, die durch ihren sensiblen, unprätentiösen Ernst überzeugt, wenngleich sie sich kritischen Fragen des Publikums nach der Vorstellung kaum öffnet.

150 Leute haben sich in Leipzig die beiden Vorstellungen angesehen. Dem Auswärtigen scheint das gering, zur Premiere von „Know Your Enemy!“ waren in Hannover an zwei Abenden je 400 Menschen gekommen. Knut Geißler, Spiritus rector des Büros für Off-Theater in Leipzig ist enttäuscht, doch seiner Meinung nach hätte es noch schlimmer kommen können. Die Leipziger, ob 16 oder 66, lieben den Mainstream. Man geht zu den Thomanern oder ins Kabarett. Schlimm sei jedoch die Ignoranz und Unkenntnis der Theaterleute, der Lehrenden und Studierenden der zahlreichen Theaterinstitute. Unter diesen Bedingungen versteht sich ein Festival Freien Theaters als Mission, nicht als Dienstleistung. Für die Messestädter ist „Off“ als ästhetische und kulturpolitische Kategorie, eine kleine Schar von Eingeschworenen ausgenommen, Terra incognita – es mangelt an gutem Beispiel. In Leipzig ist kein einziges Freies Theater ansässig, das überregional Bedeutung hätte. Ob die mit viel Idealismus in einem alten Kino installierte Schaubühne Lindenfels neue Akzente setzen will und kann, bleibt abzuwarten. Der Ruf des Poetischen Theaters, der ehemaligen Bühne der Universität, ist manchem wohl noch im Gedächtnis – allein, die heutige Arbeit kann an diese Qualität längst nicht anknüpfen. Dies muß nicht verwundern: Die Subventionspolitik der öffentlichen Hand treibt die Freie Theaterarbeit konsequent in die Selbstausbeutung. Von 200 Millionen jährlichem Kulturetat fließen lediglich 3,5 Millionen in die freie Kulturförderung. Davonbleiben für die Projektförderung Theater gerade mal 120.000 DM übrig!

Nicht einmal genug, um den Status quo zu halten. Von Entwicklung ganz zu schweigen. Auch der Hauptförderer des MANöVERS sitzt mit der Stiftung Kulturfons an der Spree. Die Bachstadt setzt unterm Signum der Tradition auf Musik(theater)förderung – alles andere bringt weniger Standortprestige und rangiert unter ferner liefen. Diese Situation spiegelt sich im Negativ gerade in der euro-scene Leipzig. Mit dem merh als zehnfachen Etat des MANöVERS zeigt dieses Festiavl jährlfich im Herbst „zeitgenössisches europäisches Theater“. Zu sehen sind, wie auf etlichen anderen Festivals auch, Tanztheater und –performances aus Europa. Nicht mehr und nicht weniger. Die Konturierung des konzeptionellen Zugriffs ist auch in diesem Jahr wieder misslungen. Dieser Vorwurf, der der euro-scene seit ihrer Gründung anhängt, erwächst freilich organisch aus der Funktion, die dem Festiavl in Leipzig zugewiesen wird: Trostpflästerchen und Lückenbüßer. Die Programmdirektion bedient diese Erwartungshaltung in aller Unschuld. Ihre Auswahl verpflichtet sich künstlerischer Qualität, des experimentellen, modernen Theaters ohne weitere Eingrenzung. Highlights der großen Festivals zu zeigen, sei nicht das Intertresse der Organisatorin Ann-Elisabeth Wolff. Die eigenen Entdeckungen, die sie in Leipzig vorstellt, lassen jedoch in der Zusammenschau keine alternative Konzeption erkennen. Die Inszenierungen des Weimarer Tanztheaters und der Compagnie Mossoux & Bonté aus Brüssel zeigen wohl formsinniges, strenges, zur Reflexion nötigendes Theater; an Stelle des Mimodram-Theates aus Tiblissi und der Cardiffer Man Act-Akteure hätte manch verschmähtes Festival-Highlight eine bessere Figur gemacht.

So kreist die öffentliche Diskussion der euro-scene letztlich um strittige handwerkliche und geschmäcklerische Fragen – die Konzentration eines Festivals für die radikale Befragung ästhetischer und sozialer Standards zu nutzen – diese Möglichkeit wurde wieder einmal vergeben. Entsprechend reibungslos funtkionieren alsdann auch die Mechanismen der Selbstpräsentation und lokalpolitischen Positionierung. Mit der euro-scene ist im Verständnis der Leipziger Kulturpolitik der Bedarf der sächsischen Metropole an „anderem“, gar Freiem Theater gedeckt. Hernach verabschiedet sich Leipzigs Theater von Europa – bis zum nächsten Herbst.

Stefan Kanis (Theater der Zeit, Jan/Feb 1996)

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