… Frühling läßt auf sich warten

König Richard III. am Schauspiel Leipzig

Warum eigentlich »Richard III.«? Klassikerspielzeit, na gut. Aber Shakespeare hat vieles geschrieben. Warum also die Geschichte des ungeheuerlichen Machtmenschen, des blutigsten Intriganten der Weltliteratur. Die Inszenierung, so war man sich in Leipzig sicher, wird’s erweisen. Hatte Engel doch mit seinem famosen Wiener »Titus« bewiesen, daß er noch der aggressivsten Motorik des Mordens Emotion und Motivation zuordnen kann. Phönix flieg! Das Bodenpersonal zittert mit.

Die Vorzüge der Inszenierung liegen in ihrer Klarheit. Richard, das Schwein, hat einen Mittelsteg ins Publikum, auf dem er seine Pläne dem Parkett offeriert. Kein psychopathisches Gestammel, keine schleichende Mythologisierung. Klar auch eine offene, mobile Bühne von Helmut Stürmer, die in schnellem Wechsel die Spielorte markiert, ohne mit grandiosen Lösungen zu überraschen. Die Kostüme Katja Schröders schließen sich an, unambitioniert, zurückhaltend, mit einem Hang zum Schäbigen – falschen Pomp muß hier niemand beklagen. Dieses Verlassen auf das Nötige, die Arbeit mit den puren Substanzen, vom Schauspiel erwartet man sie bei Engel freilich ebenso. Und man wartet… Tableaus und gekünstelte Feindlichkeit wo man Durchblick auf die blanken Nerven erhofft. Zum Beispiel: Die Witwe des von Richard im Auftrag gemeuchelten Heinrich VI. tritt in den Kreis der neuen Herrscher und klagt an. Aber Cornelia Heyse klagt ja nicht, sie tönt. Hat diese Figur Schmerzen, hat sie Verzweiflung? Will sie aufwiegeln oder verletzen, will sie hassen, will sie prophezeien? Die Ratlosigkeit überträgt sich auf die anderen Akteure – wo doch der Augenblick für höchste Anspannung, für Betroffenheit und/oder taktische Spiele in jedem Fall gekommen ist, wo doch wenigstens die Zukunft auf die Folter gespannt wird.

Davon ist wenig, viel zu wenig zu spüren. Oder will die Inszenierung davon nichts wissen? Was aber interessiert sie dann an „Richard III“? Unbewegte Schauspieler – merkwürdige Sterilität. Nur Richard wird es in diesem Klima zu eng. Nur ihm ist der inszenierte Charakter wirklich in den Körper, ins Spiel gefahren. Juergen Maurer übertrifft als einziger im Ensemble, die Erwartung, die man an es knüpft. In den Kreis seiner schleudernden Gliedmaßen zu treten, kann für jeden den Tod bedeuten. Maurer rettet die „großen Momente“ vor völliger Belanglosigkeit. Dank gilt auch Wilhelm Eilers als gediegener Helfer Buckingham, der immer alle Mit- und Gegenspieler im Blick behält – er sieht sich unterfordert. Susanne Buchenbergers Lady Anne, am Sarg des von Richard erschlagenen Vaters vom Mörder verführt, kann Energien freisetzen, die den Ungeheuerlichkeiten angemessen sind. Dirk Audehm und Jörg Dathe rücken schließlich ihre schwerfälligen Mordbuben in komödiantischen Szenen als das Bleibende des Abends ins Gedächtnis. Bruchstücke und schöne Momente – allein der Atem des Alltäglich-Grausamen fehlt.

Shakespeare – ein Spiegel durch die Zeiten; so bezeichnete Müller in einem Satz des Dramatikers große Eigenart. Das bestialische Wesen des Menschen ohne die Gaze der Historisierung, ohne den Puffer aufgesetzter Aktualität aus den Akteuren herauszuschlagen: ein hoher, namenloser Anspruch, dem sich die Inszenierung stellen will. Ein Anspruch vor allem an Offenheit und Radikalität des Ensembles und dadurch auch an dessen Können. Daß er in Leipzig nicht eingelöst wurde, zeigt auch: Das neue Schauspiel fällt nicht vom Himmel – „der Winter unsres Mißvergnügens“, er will so schnell nicht weichen.

Stefan Kanis (KREUZER, Dez. 1996)

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